1988 VX (SM)
Kostenverteilung und auch wegen der Hygiene. Ich hätte nicht übel Lust, die Bundesregierung auf Beseitigung des Wasloher Giftdepots zu verklagen. Aus hygienischen Gründen. Aus Angst vor einer Panne. Nicht wegen des möglichen Stinkens, sondern wegen des möglichen Sterbens. Aber nun das VX! Du mußt dir unsere Nervenbahnen vorstellen wie ein gewaltiges Netz von abertausend Leitungen, die die von uns aufgenommenen Impulse transportieren. Damit ein Impuls aber auch wieder zur Ruhe kommt, ist jede Leitung unterbrochen durch den sogenannten synaptischen Spalt. Wenn es den nicht gäbe, würden die Impulse ständig weiterwirken, und das könnte der Mensch nicht aushalten. Sein Nervensystem würde zusammenbrechen. Das VX setzt den synaptischen Spalt außer Kraft, und danach sind die in Gang geratenen Impulse nicht mehr zu stoppen. Das ist dann so, als stünde der Mensch permanent unter Strom. Er geht unter unbeschreiblichen Schmerzen zugrunde, wird einfach – im wahrsten Sinne des Wortes – kaputtgenervt. Ja, meine Liebe, so hübsche Sachen liegen bei uns in Wasloh, und da sollen wir ruhig bleiben?«
Katharina begann, mit ihrer Serviette Krümel vom Tisch zu fegen, machte es fein säuberlich, die offengehaltene Linke an der Tischkante.
Franz Golombek setzte sich wieder. »Ich weiß«, fuhr er fort, »du magst das Thema nicht. Aber du mußt endlich begreifen, es geht uns alle an und also auch dich!«
Sie schüttelte heftig den Kopf und schlug gleichzeitig mit beiden Fäusten auf den Tisch. »Hör auf!« schrie sie. »Hör endlich auf! Du nervst mich noch kaputt mit deinen Monologen!«
Er sah sie entgeistert an. Dann schüttelte auch er den Kopf, stand auf und ging ins Haus.
4.
Katharina Golombek blieb so verstört zurück, daß ihr fürs erste die Lust vergangen war, weiterzuessen. Hastig griff sie nach der nächsten Zigarette.
Irgendwann dreht er mir durch, dachte sie. Mein Gott, Waffen und Kriege hat es zu allen Zeiten gegeben, und jetzt leben wir sogar in einer Phase des Friedens, die schon über vierzig Jahre andauert. Das muß man doch auch …
Der Gedanke riß ab. Sie sah Marianne vom Pferd steigen. Einer der Stallburschen übernahm das Tier, führte es weg.
Wenige Minuten später erschien Marianne auf der Terrasse.
»Hallo, Mutter!«
»Guten Morgen! Komm, trink einen Kaffee mit mir!«
Marianne setzte sich. »Danke, nein.« Sie zeigte auf den Aschenbecher. »Du hast schon vier Zigaretten geraucht. Ist irgendwas?«
»Das VX-Syndrom. Es treibt deinen Vater mal wieder um.«
»Ich weiß; er war heute früh auf seiner Kontrollfahrt.«
»Wir müssen etwas dagegen tun.«
»Aber im Grunde hat er ja recht.«
»Bist du da so sicher? Ich jedenfalls kann das Thema kaum noch ertragen. Gerade eben hat er mir wieder einen ellenlangen Vortrag gehalten. Er ist geradezu besessen.«
»Hinter großen Leistungen steckt fast immer irgendein Besessener.«
»Vom Unheil läßt sich das gleiche sagen. Fehlt bloß noch, daß er mit den GREENPEACE-Leuten loszieht!«
»Na und? Wär’ doch nicht falsch. Aber wie ich ihn kenne, wird er das nicht tun, sondern nur immer wieder mit Nachdruck für die Räumung des Depots eintreten. Ist die Post schon durch?«
»Nein, aber sie wird sicher gleich kommen.«
»Was macht Vater denn jetzt?«
»Na was wohl! Er zog, weil ich ihm nicht länger zuhören wollte, beleidigt ab und hat sich jetzt wahrscheinlich irgendwo im Haus verkrochen.«
»Du sprichst von ihm wie von einem störrischen Kind.«
»Das ist er manchmal ja auch. Nimm zum Beispiel dieses ewige Herumhocken auf seinen Strohschobern! Er tut so, als hätten wir Krieg und er müßte Wache halten. Das ist doch die reinste Spielerei! Er steht um fünf Uhr auf, stellt sich sogar den Wecker, und wozu? Um stundenlang Löcher in die Landschaft zu gucken. Er weiß ja ganz genau, daß er nichts, aber auch gar nichts bewegen wird.«
Ihr Appetit schien zurückgekehrt, denn sie drückte ihre Zigarette aus und nahm sich eine Scheibe von dem dunklen Bauernbrot, bestrich sie mit Butter und biß hinein. »Was will er da?« fuhr sie fort. »Womöglich denkt er, er könnte durchs Fernglas die Männer auf dem Turm so fixieren, daß sie runterfallen, und dann …«
»Oh, da ist die Post!« Marianne sprang auf und lief dem gelben Auto entgegen.
Die Mutter beobachtete die Szene, die sich, wie so oft schon, an der Tür des Postwagens abspielte. Der Briefträger, seit Jahren derselbe, stieg aus, rollte die Zeitungen und Briefe zu einem Bündel zusammen und schob sie
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