1988 VX (SM)
Marianne auf Cara. Wie sie die Zügel anzieht und wie die Stute, um die unsere Leute einen möglichst weiten Bogen machen, ihr gehorcht. Für mich ist es das schönste Foto, das wir von Marianne haben. Es zeigt ihre Behinderung ganz deutlich, aber es zeigt auch, wie sie – trotz der Behinderung – mit dem temperamentvollsten Tier, das wir je im Stall hatten, zurechtkommt. Darum ist es ein so gutes Bild. Und dann werde ich diesem jungen Mann aus Valparaiso zwei Vorschläge machen. Erstens, wie schon erwähnt: Er schreibt ihr, seine Pläne hätten sich geändert und er komme nun doch nicht nach Deutschland. Zweitens: Es bleibt bei seiner Reise, und er schreibt ihr, er habe einen Freund in Frankfurt oder Wiesbaden, jedenfalls irgendwo in unserer Umgebung. Durch ihn habe er erfahren, was mit ihr sei. Schon vor einem Jahr. Man kann es noch ausbauen. Er habe in der ganzen Zeit kein Wort darüber verloren, weil er …, was weiß ich, den schönen Briefwechsel nicht gefährden wollte oder einfach Angst hatte vor ihrer Angst. Nun aber stehe seine Reise bevor, und sie solle wissen, daß sich für ihn nichts geändert habe. Und so weiter.«
»Und dann? Ich meine: Falls er sich wirklich für diesen zweiten Weg entscheidet, was erwartest du dann von ihm? Und was hat Marianne zu erwarten? Ich finde, es ist ein Experiment mit ziemlich vielen Unbekannten.«
»Katharina, versteh mich richtig! Ich will hier niemanden an unsere Tochter verkuppeln. Ich will nur zu erreichen versuchen, daß sie mit dem Jungen ein paar schöne Tage hat. Das ist alles. Er reist, wenn seine Zeit um ist, wieder ab, und wie es dann weitergeht, muß sich zeigen. Das Entscheidende ist, daß die beiden sich durch ihre Briefe längst kennen. Damit ist diese verdammte Chronologie, von der ich vorhin sprach und die das größte Problem darstellt, schon mal aufgebrochen.«
»Glaubst du denn, daß es für den zweiten Weg überhaupt eine Chance gibt?«
»Das hängt ganz davon ab, was für ein Mensch dieser Alejandro Munoz ist.«
»Und wohin geht deine Reise? Ich meine: für Marianne?«
»Nach Spanien. Um ein paar Pferde zu kaufen.«
»Nein. Dann will sie mit.«
»Dann eben nach Kopenhagen, um meinen Schulfreund zu besuchen.«
»Ja, das ginge. Aber noch mal zu dem Aufwand: Könnte man das alles nicht auch in einem Brief vortragen?«
»Persönlich wär’s besser. Einem besorgten Vater stellt man sich anders als einem Brief.«
Katharina nickte. »Da hast du wohl recht.«
5.
Alles stimmte. Die Zeit: Es war ein Frühsommertag am Wochenende. Das Wetter: Die Sonne schien von einem blauen Bilderbuchhimmel herunter. Die Akteure: der junge Mann und das Mädchen. Die Gegend: ein Wiesenhang, ein paar Tannengruppen ringsum, voraus ein großes Kornfeld, daran anschließend der Wald. Auch das Arrangement war gut gewählt: eine über das Gras gebreitete Wolldecke, darauf das Pärchen, und um die beiden jungen Leute herum der Proviantkorb, die Pappbecher, die Pappteller, Bestecke aus Plastik, die Thermoskanne, das Kofferradio. Und die Kühlbox. Im Augenblick standen die Rotweinflasche und ein paar Coca-Cola-Dosen auf ihrem geschlossenen Deckel. Wirklich, alles stimmte, und es sah – ganz nach Plan – wie ein Picknick aus. Aber es war kein Picknick.
»Zehn Minuten noch«, sagte Hilario. »Wir sollen um Punkt zwölf anfangen.« Er zog eine Wanderkarte aus seiner Jacke, breitete sie auf der Wolldecke aus, zeigte auf eine schraffierte Stelle mit der Höhenangabe »87 Meter« und sagte: »Hier sind wir.« Zayma beugte sich über die Karte. Hilarios Zeigefinger umkreiste eine als Waldgebiet ausgewiesene Fläche. »Und hier sitzt der Ami.«
»Wie ist Pierre ausgerechnet auf den Schwarzstorch gekommen?« fragte Zayma. »Ich dachte, der ist längst ausgestorben.«
»Ist er auch fast. Es gibt nur noch wenige brütende Paare, und eins davon hat sein Nest auf einer Eiche zwischen Wasloh und Kellbach, ziemlich nah am Depot. Also haben die Amis, die ja nichts anderes zu tun haben, als in die Gegend zu glotzen, so einen Vogel wahrscheinlich schon öfter gesehen. Außerdem mußte es ein ziemlich großes Tier sein; mit einem Spatz oder einer Nachtigall wäre es nicht zu schaffen gewesen.« Er warf einen Blick zum Himmel. »Es ist fast windstill; wir haben genau das Wetter, das wir brauchen.«
»Sonst hätten wir die Aktion verschieben müssen.« »Ja, aber heute ist besser als morgen, und jeder weitere Tag hätte unsere Chancen verschlechtert. Braden ist gestern liquidiert worden, und also
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