1988 VX (SM)
Grund, solchen Verlautbarungen aus Genf irgendwelches Gewicht zu geben. Seit Jahrzehnten wird über die Abrüstung debattiert, und wie sehen die Fakten aus? Die Waffenarsenale der Supermächte sind zum Bersten gefüllt mit A-, B- und C-Waffen!«
»Das stimmt, aber durch Gorbatschow ist viel in Bewegung geraten. Nie vorher waren wir so dicht dran an konkreten Abrüstungsbeschlüssen.«
»Doch, und sogar etliche Male! Und immer wieder wurden die Vereinbarungen über den Haufen gestoßen. Es gibt eine ellenlange Liste von Resolutionen zu diesem Thema, angefangen bei der Petersburger Deklaration von 1868, die die Verwendung giftiger Geschosse im Krieg verbietet, und endend …, nun, wenn Sie wollen, bei Monsieur Morel, der da glaubt, man sei mal wieder ganz nah dran. Und dazwischen liegen ungefähr zwei Dutzend Beschlüsse, die alle nicht eingehalten wurden. Die Proteste gegen die chemischen Waffen sind so alt wie die chemischen Waffen selbst. Die Petersburger Deklaration zum Beispiel erfolgte vor fast hundertzwanzig Jahren! Dann hat es die Brüsseler Konferenz von 1874 gegeben, dann die Erste Haager Konferenz von 1899 und acht Jahre später die Zweite, die berühmte Haager Landkriegsordnung. 1918 gab’s den Aufruf des Internationalen Roten Kreuzes gegen den Einsatz chemischer Kampfstoffe, und Anfang der zwanziger Jahre war es die Washingtoner Seeabrüstungskonferenz, die das Verbot chemischer Waffen als geltendes Völkerrecht bezeichnete. Und ein Genfer Protokoll hat es schon vor über einem halben Jahrhundert gegeben.«
»Ich weiß, 1925.«
»Ja. Die Amerikaner haben es erst fünfzig Jahre später ratifiziert, aber immerhin, sie haben es getan, haben das darin verankerte Verbot aller chemischen und bakteriologischen Waffen anerkannt und … besitzen heute einige hunderttausend Tonnen davon! Oder nehmen Sie das Jahr 1969! Da wurde die UNO-Resolution Nr. 2603 verabschiedet. Ihr Inhalt: Verbot der chemischen Kriegsführung! Dann: die Arbeit der SIPRI, ihre sechsbändige Publikation zum Thema B- und C-Waffen, oder die vielen Workshops der Pugwash-Arbeitsgruppe in Helsinki, in Stockholm, in London, in Mühlhausen, in Köln, in Salt Lake City und dann wieder – zusammen mit der SIPRI – in Stockholm und dann schließlich noch zweimal in Genf. Übrigens gibt es auch sowjetische Memoranden zum Verbot chemischer Waffen. Jawohl, das alles hat man schon versucht, und da meinen Sie tatsächlich, aus dieser kleinen Zeitungsmeldung Hoffnung schöpfen zu dürfen?«
Golombek gab keine direkte Antwort, sagte nur: »Sie kennen sich gut aus.«
»Das gehörte zu meinem Studium, und eben weil ich mich so gut auskenne, mach’ ich diese Arbeit hier. Aber wenn die Chronik der gescheiterten Versuche Sie nicht überzeugt, dann gibt’s da auch noch eine ganz andere Perspektive. Vielleicht schaff ich’s mit der. Wir Menschen haben nun mal den Drang, von Fortschritt zu Fortschritt zu taumeln. Wir haben das Auto erfunden, das Flugzeug, die Raumkapsel; das Telefon, das Radio, das Fernsehen; wir heilen nicht nur Krankheiten, sondern verpflanzen Organe, und jetzt sind wir sogar dabei, an den Genen herumzufummeln. Es gibt keinen Stop, geschweige denn ein Zurück. So haben auch die Chemiewaffen ihre Entwicklung durchlaufen, vom einfachen Lahmleger wie Tränengas über die Psychodrogen LSD und Mescalin bis hin zu den Organophosphor-Verbindungen der dreißiger Jahre. Ich hab’ mal einen Film gesehen; da hatte man eine Katze auf den Trip geschickt. Das Ergebnis: Sie litt unter Halluzinationen und nahm Reißaus, sobald sie irgendwo ’ne Maus sah. Übertragen Sie das mal auf eine Kompanie Soldaten, die einen Stützpunkt halten soll! Na ja, und so ging es immer weiter. Aus den Organophosphor-Verbindungen, die Deutschland und England ungefähr gleichzeitig entwickelt haben und die ursprünglich nur als Pflanzenschutzmittel gedacht waren, entstanden dann schließlich die heutigen Nervengifte wie Tabun, Sarin, Soman und auch unser VX, und damit lassen sich Kriege im Handumdrehen gewinnen. So ein Mittel wird die Menschheit doch nicht freiwillig aufgeben, jedenfalls nicht auf dem Weg über Verhandlungen, Vereinbarungen, Resolutionen und Verträge! Wie also dann? Nur durch die Katastrophe! Aber die würde mittlerweile so verheerende Folgen haben, daß sie als Lektion natürlich zu drastisch ausfiele. Darum muß die Fast-Katastrophe her, und die führen wir herbei! Wir schrecken die Menschen auf, indem wir sie eine Weile in der Angst leben lassen, die
Weitere Kostenlose Bücher