1988 VX (SM)
Giftküche vor die Nase gesetzt hatten. Schließlich sagte der Sohn, eigentlich mehr beiläufig:
»Ich wüßte eine Lösung, um dem Ärger ein für allemal ein Ende zu machen. Du verkaufst hier alles, und wir ziehen nach Norden, nach Schleswig-Holstein zum Beispiel oder sogar noch weiter, nach Dänemark. Da kaufen wir uns an, bauen was Neues auf.«
Die Antwort auf diesen Vorschlag war dann nicht mehr bei Tisch erfolgt. Wahrscheinlich hatte der Vater die Angestellten nicht dabeihaben wollen, vermutlich nicht mal seine Frau. Er hatte den Sohn angesehen, als wäre der eine Vogelspinne oder irgendein anderes abscheuliches Tier, war aufgestanden und hatte nach oben gezeigt, was heißen sollte, Frank möge ihm ins Kaminzimmer folgen, das damals noch nicht als Bibliothek diente. Dort hatte der Vater, äußerlich noch sehr ruhig, den Sohn mit Handzeichen in einen der Sessel dirigiert. Frank hatte Platz genommen. Der Vater war stehengeblieben, hatte wohl den Blick von oben nach unten gewollt. Und dann war das kurze, aber heftige Donnerwetter erfolgt.
»So, so! Schleswig-Holstein also oder auch Dänemark! Dich hat wohl eine unserer Kühe gebissen! Wärest du tatsächlich fähig, dies alles …«, der rechte Arm Bernhard Golombeks beschrieb einen Kreis über seinem Kopf, und es sah aus, als wollte er ein Lasso werfen, »… aufzugeben? Schämst du dich nicht?«
»Aber Vater, ich hab’ dabei vor allem an dich gedacht!« »Das ist ja noch schlimmer! Mich so einzuschätzen! Was glaubst du denn, wofür ich ein Leben lang geschuftet habe? Um vor den Yankees zu kuschen? Ich denke nicht daran! Du sagst: Weggehen und woanders was Neues anfangen. Daß ich nicht lache! Merke dir eines, mein Sohn: Wohin du auch gehst, deine Niederlage nimmst du mit! Die kannst du nicht einfach stehenlassen wie einen Koffer. Du nimmst sie mit, und dann macht sie dich fertig, wohin du auch gehst!«
Das war eine der längsten Reden gewesen, die Frank Golombek je aus dem Munde seines Vaters zu hören bekommen hatte. Sie fuhr ihm in die Glieder, und er konnte nur noch antworten: »Du hast recht.«
»Dein Glück!« hatte Bernhard Golombek dann noch gesagt und war hinausgegangen. Und nun, drei Jahrzehnte später, saß der Sohn in demselben Zimmer, und vor allem das Wort von der Niederlage, die man mitnimmt, beschäftigte ihn. Wenn ich jetzt ginge, dachte er, wäre nichts gewonnen. Es kann zu einem Unfall kommen oder zu einem Anschlag aufs Depot, und zwar von weniger friedlichen Leuten, als meine Partner und ich es sind. Dann müssen Tausende sterben, und ich muß mir sagen: Frank Golombek, du hattest die Gelegenheit, eine Granate aus dem Camp zu holen und die deutsche Öffentlichkeit zu warnen und dadurch vielleicht den Abtransport der Kampfstoffe in Gang zu bringen, und … hast es nicht getan! Hast deine Leute im Stich gelassen!
Er trat ans Fenster, sah auf der beleuchteten Baustelle die Ramme. Wie eine Giraffe stand sie da, ganz still jetzt.
Nur zwei Stützpfeiler fehlen noch, dachte er und hatte sogleich auch das andere, das viel wichtigere Maß im Kopf: noch neun Meter!
Es war ein großes Gefühl, zu wissen, daß sie bereits ein Stück über den Zaun hinaus waren, vorbei an den Sensoren, vorbei an den Wachtürmen, vorbei an den Männern, die Tag für Tag, Nacht für Nacht mit ihren Ferngläsern die Umgebung kontrollierten. Wir sind drin, sagte er sich, wenn auch vorerst noch unterirdisch.
Er hatte sogar schon das Periskop gesehen, ein langes, ausziehbares Stahlgebilde mit dem Objektiv im drehbaren Kopf. Der Mann in Köln hatte es nach Nadines Angaben gebaut. Oben befand sich eine Spitze, damit man es leichter durch den Boden schieben konnte, darunter ein kleines Dach, das wie ein umgedrehter Trichter aussah und dazu diente, das Objektiv auf seinem Weg durchs Erdreich zu schützen. Zwei Tage noch, dachte Golombek, dann sitzen wir in unserer von Balken gestützten Höhle wie in einem U-Boot, fahren das Sehrohr aus und beobachten den Feind!
Er malte es sich aus: Zuerst sehen wir die Grashalme, wegen der Vergrößerung dick wie Äste. Dann erst einmal ganz herum und dabei hoffentlich nichts als Gras! Dann höher hinaus mit dem Rohr! Es ganz vorsichtig über die Grashalmspitzen hinauslugen lassen. Der Zeichnung und den Fotos nach müßten wir das Proviantlager und die Sanitätsstation ausmachen können. Vom Gestüt aus betrachtet, lagen diese beiden Gebäude nicht deckungsgleich hintereinander, sondern versetzt. Das war bei der Wahl des Winkels, in dem sie
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