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1992 Das Theunissen-Testament (SM)

1992 Das Theunissen-Testament (SM)

Titel: 1992 Das Theunissen-Testament (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Händen nicht mehr ausgereicht hatte und sie einfach abgeglitten waren vom Mast. Er sah sich verloren, hatte er doch beim Überbordgehen gerade noch mitgekriegt, wie verzweifelt auch John sich abmühte, nicht den Halt zu verlieren. Aber als er wieder aufgetaucht war, hatte John ein Tau um den unteren Teil des Mastes geschlungen und verknotet, und nun warf er ihm das lose Ende zu. Daß er dabei genau traf, war angesichts der an Bord wie auch im Wasser herrschenden Turbulenzen wohl eher ein Zufall. Das nasse Tauende jedenfalls schlug ihm, hart wie ein Knüppel, um die Ohren. Doch der Schmerz machte ihm nichts aus, denn der herangeschwirrte Tampen war das einzige, was ihn am Leben halten konnte, wenn er ihn nur packte. Und das tat er, und John zog, zog mit aller Kraft, die er aufzubringen noch in der Lage war. Er erreichte das Schiff, und die Rettung gelang, indem John unentwegt zog und er selbst, die Hände ins Tau verkrallt, die Bordwand erklomm. Und dann lagen sie erst mal minutenlang völlig erschöpft auf den Decksplanken, hielten sich an dem dicken Seil fest. Aber es bedurfte auch noch des Glücks, um aus der Not, die ja mit seiner Rückkehr an Bord nicht gebannt war, erlöst zu werden. Und dieses Glück hatten sie, denn eine Viertelstunde später kreuzte plötzlich der in Husum stationierte Schlepper NEPTUN auf. Trotz des schweren Seegangs schafften die Männer es, ein Boot auszubringen und die Schiffbrüchigen aus ihrer bedrohten Lage zu befreien. Sie hievten die beiden an Bord, zogen sie aus, rubbelten sie mit Tüchern warm und packten sie in die Kojen. Später erfuhren sie, daß die GESINE kurz nach dem Rettungsmanöver auseinandergebrochen war. Er entsann sich auch, daß dieses gut drei Jahrzehnte zurückliegende Unglück zwei Folgen hatte, die einander scheinbar widersprachen. Den Totalverlust der GESINE sahen die Enkel, als sie dem Großvater gegenübertreten mußten, natürlich als das Schlimmste an, und so unterwarfen sie sich gern der Strafe, die er ihnen auferlegte. Eine Woche lang sollten sie auf dem Hof Schwerstarbeit leisten, wurden um halb vier in der Frühe vom Großknecht aus dem Schlaf gerissen und sanken abends mit vor Schmerzen brennenden Gliedern in ihre Betten. Im Sommer stellte man, um den Haubarg bis in den letzten Bodenwinkel vollzustopfen, die sogenannten Tosmieter ein, die Zuwerfer. Das waren kräftige Burschen, die das Erntegut hinaufzuwerfen hatten, damit es dort verstaut werden konnte. Eigentlich waren ein vierzehn- und ein gut fünfzehnjähriger Junge mit dieser Männerarbeit überfordert, aber der Großvater bestand darauf, daß sie die Woche durchhielten, damit ihnen, wie er sich ausdrückte, die Flausen ein für allemal vergingen.
Ein halbes Jahr später hatte der Vorfall eine weitere Folge. In den Elternhäusern der Enkel traf je ein Brief des Großvaters ein. Er enthielt in beiden Fällen einen Scheck über zweitausendfünfhundert Mark. Den beigefügten Text sollten, so wünschte es Maynhard Theunissen, die Väter ihren Söhnen vorlesen. Darin hieß es, jahrelang habe er versucht, die GESINE zu verkaufen, sei sie aber nicht losgeworden. Niemand habe den morschen Kahn haben wollen. Nun jedoch sei das Schiff durch den bodenlosen Leichtsinn seiner Enkel und durch Gottes Fügung abgesoffen, und er habe eine beachtliche Versicherungssumme kassieren dürfen. Ich habe John und Olaf damals, so stand es sinngemäß in dem Brief, zur Strafe eine Woche harter Arbeit verordnet, aber jetzt kommt ihnen ein Teil der Versicherungssumme zu, denn ein Verkauf, noch dazu ein so günstiger, wäre mir nicht gelungen.
Ja, dachte Olaf, als er den Stuhl zurückschob und aufstand, um ins Bett zu gehen, so waren die alten Theunissens, hart und gerecht.

4
    »Aber er ist mein Vetter, und wenn ich an die alljährlichen Sommerferien denke, die ich immer mit ihm zusammen bei den Großeltern verbracht habe, dann muß ich sagen. Es waren die schönsten Zeiten meines Lebens!« John Theunissen nahm die Serviette, wischte sich den Mund ab und warf sie auf den Tisch.
    Sie saßen im Eßzimmer des großen Hauses an der Eibchaussee, das dem Onkel gehört hatte. Im Frühjahr waren sie dort eingezogen, zahlten dafür einen von Dr. Krogmann festgelegten Ausgleich an Olaf. Sie waren zu viert. John gegenüber saß Helga, seine Frau, und an den Längsseiten des Tisches hatten die beiden Kinder ihre Plätze, der zwanzigjährige Carsten und die achtzehnjährige Hanna.
    Helga Theunissen, in ihrem blauen Seidenkleid wie immer

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