1992 Das Theunissen-Testament (SM)
von damals und dem jetzigen Ernstfall. Sie waren um die zehn Jahre alt, und das Spiel hieß »Schiffe versenken«. Jeder hatte ein in zwölf mal zwölf Karrees aufgeteiltes Blatt Papier vor sich. Um die einzelnen Felder benennen zu können, waren ihre waagerechten Reihen mit den Zahlen von eins bis zwölf und die senkrechten mit den Buchstaben von A bis L gekennzeichnet. Zunächst verteilte man seine Schiffe, deren Größe und Beschaffenheit durch eine unterschiedliche Anzahl von Karrees bestimmt war, über das ganze Blatt, aber so, daß der Gegner es nicht sehen konnte. Und dann kam es darauf an, durch Aufruf der Koordinaten, zum Beispiel C 7, ein gegnerisches Schiff zu treffen. Er erinnerte sich. Schlachtschiffe hatten fünf Karrees, Kreuzer vier, Zerstörer drei, Torpedoboote zwei und U-Boote eins. Traf man ein UBoot, so galt es als versenkt. Ein größeres Schiff hingegen ließ sich nicht mit einem einzigen »Schuß« ausschalten. Der erste Treffer beschädigte es nur. Man mußte im Spielverlauf also auch die anderen dazugehörigen Karrees aufrufen. Die abgefeuerten Schüsse wurden penibel notiert, damit man mit ein und derselben Angabe nicht mehrmals ins Leere zielte oder ein bereits versenktes Schiff aufs neue benannte. Einmal hatten sie einen Spielstand erreicht, bei dem jedem nur ein einziges Schiff, ein U-Boot, verblieben war. Er hatte noch genau im Kopf, wie sie daraufhin die Regeln veränderten und das Schießen einstellten. Statt dessen wurden Funksprüche gewechselt. Kommandant an Kommandant, hieß es darin. Und dann etwa: »Wir sind die einzigen, die übriggeblieben sind. Sollte jetzt nicht jeder, nachdem nun schon Hunderte von Marinesoldaten den Tod gefunden haben, in den Heimathafen zurückkehren und den Ausgang der Seeschlacht als unentschieden ansehen?« Diese so unsoldatische Variante war ganz plötzlich dagewesen. Er entsann sich nicht mehr, wer sie sich ausgedacht hatte, wußte aber noch, daß der andere auf den Vorschlag eingegangen war.
Von einer solchen gegenseitigen Schonung waren sie jetzt, als fast Fünfzigjährige, weit entfernt. Und wenn es auch nicht mehr um die Vernichtung der feindlichen, sondern um den Ausbau der eigenen Flotte ging, so lag das Ziel doch darin, den Gegner in einer sechsjährigen Seeschlacht auszuschalten. Jawohl, dachte er, Seeschlacht! Auch diesmal entscheidet über Sieg und Niederlage letzten Endes die Anzahl der Schiffe, die jeder am Stichtag über die Meere bewegt! Bei Olaf sind es schon dreizehn, und wenn ich seine von Heinson aufgeschnappten Worte richtig interpretiere, ist die Nr. 14 bereits anvisiert. CLAAS THEUNISSEN soll sie heißen. Ich dagegen habe noch immer nur meine zwölf, und einige von ihnen schleppen saftige Hypotheken mit sich rum, weil ich den PLAYA-HERMOSA-Flop finanzieren mußte. Eine miese Zwischenbilanz, dachte er und bat die Stewardess um einen neuen Drink.
7
Der 11. Oktober sollte für Olaf Theunissen zu einem Tag werden, der ihm für immer im Gedächtnis bleiben würde. Er begann ihn, als er die Reederei betrat, mit einem launigen Gruß an die Angestellten und sagte dann: »Alle mal herhören! Ich will jetzt nicht den Schulmeister spielen, aber doch – aus purer Neugier – mal fragen, ob Sie wissen, wieso heute der Vortag eines geschichtlichen Datums ist.« Die vier Frauen und fünf Männer, die in dem großen Büro arbeiteten, sahen ihren Chef an. Sie schwiegen, wußten keine Antwort. Da kam, aus dem Kopierraum, Justus Hagemann dazu, ein erst seit wenigen Monaten als dritte Kraft in der Frachtabteilung beschäftigter junger Mann, der in Peru aufgewachsen war. Ihm fiel sofort auf, daß die Kollegen untätig dasaßen. »Ist was?« fragte er.
»Wir wollen«, erwiderte ihm Horst Proske aus der Passagier-Abteilung, »von dir wissen, was es mit dem morgigen Tag auf sich hat.«
»Na, ist doch klar«, antwortete Hagemann, »am 12. Oktober 1492 hat Kolumbus Amerika entdeckt.«
»Bravo!« sagte Olaf und fuhr fort: »Er landete damals auf Guanahani und nannte das endlich gefundene Land San Salvador, Heiliger Erretter. In den südamerikanischen Ländern ist der 12. Oktober deshalb ein Feiertag. Día de la raza nennen sie ihn, Tag der Rasse, wie immer das zu interpretieren ist.«
»Aber dann hat er«, mischte sich die kesse Sabine Vetter ein und wies auf Hagemann, »das Bravo gar nicht verdient wegen …, wegen der Gnade seiner südamerikanischen Geburt.«
»Stimmt«, sagte Hagemann, »drüben kennt jeder dieses Datum. In der
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