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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Klar, der Schornsteinfeger mußte ja durchkriechen können. Also, wenn ich mich auf den Rücken lege, die Knie anwinkle und dann mit voller Wucht gegen die dünne Umrandung trete, müßte sie eigentlich brechen, und ich käme ins Innere des Schornsteins, könnte raufklettern in die Freiheit und brauchte dann nur noch – am besten barfuß, damit niemand was hört – übers Walmdach wieder abwärts zu klettern und in den Garten zu springen.
Er überlegte, was mehr Erfolg verhieß, der Überfall auf den ahnungslosen Paul Kämmerer oder der Weg durch den Schornstein, dessen Vorbereitung allerdings, das fiel ihm erst jetzt ein, problematisch wäre, weil seine Fußtritte gegen die Wand im ganzen Haus zu hören sein würden. Schade, dachte er, der heimliche Aufstieg bei Nacht wäre mir lieber als die überraschende Attacke, weil Kämmerer ja die Pistole hat.
Verdammt, nun hab’ ich gleich zwei Fluchtmöglichkeiten, und beide haben einen Haken!

32
    Es war noch immer der erste Tag mit dem Gefangenen im Haus, wenn auch mittlerweile später Abend. Kämmerer lag angekleidet auf dem Bett im Gästezimmer. Frau Engert nahm an einer Geburtstagsfeier teil. Sie hatte die Einladung schon vor vier Wochen bekommen und damals gleich zugesagt. Deshalb, so hatte er gemeint, müsse sie wohl hingehen. Wenn nicht Krankheit sie abhielte, und das sei ja überprüfbar, würde ihr Fernbleiben Fragen aufwerfen, die Ungelegenheiten mit sich bringen könnten. So war sie gegangen, wollte aber schon gegen halb elf zurück sein. Jetzt war es kurz nach zehn. Vogt hatte weder gerufen noch sich auf andere Weise bemerkbar gemacht.
    Wer mag er in Wirklichkeit sein? fragte er sich. Wer steht hinter ihm und zieht die Fäden? Hubert Dillinger hat von einem RING gesprochen, der die Ehemaligen auffangt. Wenn es eine solche Organisation tatsächlich gibt, wurde Vogt vielleicht von ihr auf mich angesetzt. Und wer weiß, vielleicht operiert diese Organisation von Spanien aus und hat ihre Zentrale auf der Hacienda LA ARBOLEDA. Es wäre ja in unserer Geschichte nicht das erste Mal, daß die Reste eines zerschlagenen kriminellen Vereins im Ausland untertauchen. 1945 gab es den Exodus nach Südamerika. Wenn so was jetzt wieder passiert ist, müßte es uns, die vormals Unterdrückten, zur Weißglut bringen. Siebzehn Millionen Menschen leben jahrzehntelang unter der Knute, dann kommt endlich die Befreiung, aber die Knutenschwinger machen sich aus dem Staub oder spielen, falls sie hierbleiben, die Unschuldslämmer, nachdem sie vierzig Jahre lang die Wölfe gewesen sind. Und die Maden im Speck. Außer Schießbefehl, Ausreiseverbot und Bespitzelung, außer Haft und Folter hat es ja noch so einiges mehr gegeben, was die sauberen Herren zu verantworten haben.
    Er hatte erst kürzlich durch eine vom früheren Pressesprecher der DDR-Generalstaatsanwaltschaft zusammengestellte und unter dem Titel TATORT POLITBÜRO veröffentlichte Dokumentation erfahren, was alles die Führung sich herausgenommen hatte, und das sogar wörtlich, herausgenommen nämlich aus dem Geldbeutel des Volkes. Demnach hatte eine Auslese von etwa zweihundertachtzig Begünstigten ein wahres Drohnendasein geführt. Wandlitz zum Beispiel. Dieses hermetisch abgeriegelte Areal inmitten der von Entbehrung gezeichneten Republik war das Paradies der Privilegierten. Dort wurde in Saus und Braus gelebt. Dort hatten die Auserkorenen, die doch eigentlich ihren Landsleuten Bescheidenheit und Brüderlichkeit hatten vorleben müssen, Zugang zu allem, was das Herz begehrte, zu importierten Westprodukten wie Fernsehern, Stereoanlagen und Videogeräten, zu Uhren, Schmuck, Jagdzubehör, Genußmitteln. Ja, sogar harte Pornos hatten sie sich kommen lassen, und das wohl kaum in der Absicht, die Imperialisten einmal mehr der Dekadenz und Unmoral zu überführen. Damit nicht genug. Ein ganzer Fuhrpark von Luxusautos stand ihnen zur Verfügung. Und nicht nur ihnen. Selbst Kinder und Kindeskinder wurden in Volvo-Limousinen zum Friseur und zur Disco, zum Fußballplatz und ins Konzert gefahren. Auch wer keinen Chauffeur beanspruchte, sondern sich lieber selbst ans Steuer setzte, durfte kostenlos tanken, sooft und soviel er nur wollte. Allein dem Ehepaar Honecker standen nicht weniger als vierzehn Privatwagen zur Verfügung. Das war doch, wie man es jetzt auch drehen und wenden mochte, Diebstahl am Volkseigentum! Und der beschränkte sich nicht auf den direkten Zugriff, sondern hatte eine indirekte Variante im Gefolge, die ebenfalls

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