1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
sind abgesprungen. Erst jetzt ging ihm auf, daß er gar nicht dazu gekommen war, von Schöllers Tod zu berichten.
War wohl auch nicht nötig, sagte er sich. Dieser Tod und Dillingers Kehrtwendung passen zusammen. Entweder haben Kopjella & Co. auch in Blankenese einen Anschlag verübt, und es ist noch mal gutgegangen, oder sie haben damit gedroht.
Er versuchte, sich in Angelika und Hubert Dillingers Lage zu versetzen. Als Vater eines ermordeten Kindes gelang ihm das auf Anhieb.
Er ging aus dem Zimmer, stieg nachdenklich die Treppe hinauf.
»Ich bin hier«, rief Frau Engert, »in unserem Observatorium.«
Er trat ein, sah sie am Fenster stehen.
»Keine besonderen Vorkommnisse«, meldete sie.
Nun entschloß er sich doch zu reden.
»Bitte, Frau Engert, setzen Sie sich hin. Ich muß Ihnen etwas sagen.«
Sie setzte sich in den einzigen Sessel, den es im Zimmer gab, und er nahm ihr gegenüber auf dem lederbezogenen Hocker Platz.
25
Er sah sie an, wie ein Vater seine Tochter ansieht, wenn er sich vorgenommen hat, ihr irgendwelche Flausen auszureden. Sein Blick drückte Wärme aus und zugleich die Unbeirrbarkeit dessen, der sich um jeden Preis durchsetzen will. Aber sie war nun mal nicht seine Tochter, sondern hatte den Jahren nach sogar seine Mutter sein können. Und sie war entschlossen. So zeigte auch ihr Blick, was sie bewegte, nämlich die Absicht, sich zu wehren, und das, obwohl außer der Mitteilung, er müsse ihr etwas sagen, noch kein Wort gefallen war. Die Vermutung, er habe gerade eine bedrohliche Nachricht erhalten, ließ sie, bestärkt durch die von ihm so energisch getroffene Sitzordnung, befürchten, er wolle sie ausbooten. Und so war es auch.
»Frau Engert«, sagte er, »Ihre Gastfreundschaft, Ihr Verständnis, Ihre aktive Mithilfe, das alles ist überwältigend für mich, und ich werde es Ihnen immer danken, aber jetzt hat die Lage sich derartig zugespitzt, daß ich Ihren Beistand nicht länger in Anspruch nehmen darf. Georg Schöller, von dem ich Ihnen erzählt hab’, ist gestern abend in Halle ermordet worden. Sie erinnern sich, das ist der Mann, der den Hinweis auf die Familie Dillinger gab. Ja, und die hab’ ich angerufen, um sie zu warnen, und da hat Herr Dillinger mir klipp und klar gesagt, daß seine Frau und er nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Ich hab’ das Gefühl, daß man die beiden unter Druck gesetzt hat, und wenn es so ist, finde ich ihre Reaktion durchaus begreiflich. Glauben Sie mir, ich würde auch Sie in Gefahr bringen, und das will ich nicht.« Er schwieg, erwartete nun ihre Antwort, doch sie ging auf das, was sie soeben erfahren hatte, überhaupt nicht ein, sondern sagte nur: »Bitte, entschuldigen Sie mich für einen Moment!« und verließ das Zimmer.
Als sie zurückkehrte, hatte sie ein Album in der Hand. Sie schlug es auf, blätterte ein paar Seiten um und hielt ihm schließlich ein Gruppenfoto hin, auf dem etwa zwanzig junge Mädchen zu sehen waren. Es schien sich um eine Schulklasse zu handeln. In der Mitte stand ein Mann mit grauen Haaren, wohl der Klassenlehrer.
»Finden Sie mich darauf wieder?« fragte sie.
Er nahm ihr das Album ab, ließ seinen Blick über die vielen Gesichter gleiten, gab sich Mühe. Und hatte Erfolg. Die großen, ausdrucksvollen Augen waren das Merkmal, das sich über die Jahrzehnte hin kaum geändert hatte.
»Das sind Sie!« sagte er und tippte dort, wo er sie entdeckt hatte, auf das Foto.
»Richtig. Und nun sehen Sie sich bitte das Mädchen neben mir an, von Ihnen aus rechts.«
»Die Blonde? Die Germanin?«
»Ja.« Sie ließ sich das Album zurückgeben, legte es auf den Monitor, setzte sich wieder. »Mit dieser Beschreibung haben Sie auf Anhieb das erste große Problem meiner Freundin genannt. Sie war der klassische BDM-Typ, ein wahres Vorzeigeexemplar im Sinne der Nazis, aber …«, sie klopfte sich gegen die Brust, »hier drinnen genau das Gegenteil. Und damit fing das Unheil denn auch an. Unser Direktor wollte sie unbedingt für das Kapitel Rassenmerkmale in einem neuen Biologiebuch gewinnen, doch Brunhilde … , sie hieß wirklich so, und germanischer geht’s ja kaum noch, wenn wir mal von Kriemhild absehen, also, sie lehnte das kategorisch ab, und von Stund an schikanierte er sie, wo er nur konnte. Aber irgendwann zog sie mit ihren Eltern in einen anderen Münchner Stadtteil, und da verlor er sie aus den Augen. Richtig gefährlich wurde es für sie erst wieder an der Uni.«
Sie hatte im Plauderton erzählt, und es schien immer noch so,
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