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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Job auf Eis gelegt, sein Haus vorläufig aufgegeben und zunächst in einem dritt- oder viertklassigen Hotel gehaust und anschließend Frau Engert nicht nur mit seiner Gegenwart, sondern auch noch mit seinen Problemen behelligt. Er hatte Reisen gemacht, Nachforschungen angestellt, Briefe geschrieben, Anzeige erstattet und im Falle der Dillingers eine ganze Familie in seine Angelegenheit mit hineingezogen.
    Aber im Grunde zählte er all diese Maßnahmen nur auf, um sie doch als angemessen, mehr noch, als notwendig einzustufen und sich damit Mut zu machen für sein weiteres Handeln.
    Ich will ja, sagte er sich, Frank Kopjella nicht umbringen. Aber finden will ich ihn.
Er dachte an die junge Frau, die vor Jahren im Gerichtssaal von Lübeck den Mörder ihres Kindes erschossen hatte. Sie wurde festgenommen, angeklagt und verurteilt, weil das Gericht meinte, die Verhängung einer Strafe sei keine Privatangelegenheit. Das ist, dachte er nun, wohl nur zum Teil richtig. Der Tod des Kindes war ein tiefer, ein entsetzlicher Einschnitt in ihrem Leben, und genau dort, wo diese Verletzung stattgefunden hat, wird der Impuls zu ihrer Tat entstanden sein.
Ich weiß, fuhr er in seinen Gedanken fort, Rache ist nicht erlaubt. So sagt es das Gesetz, und so sagt es die Kirche. Aber ich kann verstehen, daß ein Mensch, dem man das Kind getötet hat, Gesetz und Kirche außer acht läßt. Wahrscheinlich handelt er ja auch gar nicht aus Vernunftgründen, sondern aus einem inneren, einem emotionalen Zwang heraus.
Trotzdem, Staat und Kirche haben recht, wenn sie die Rache verwerfen, denn die ruft neue Rächer auf den Plan, und schließlich wird die Reihe so lang, daß der Beginn der Schuld nicht mehr auszumachen ist. Aber bei mir ist es anders. Da ist die Reihe klein und die Schuld des Anfangs überdeutlich.
Wie wäre Marias Reaktion gewesen, fragte er sich, wenn sie noch lebte und nun erfahren hätte, daß ihr geliebter Sohn der Brutalität eines SED-Schergen zum Opfer gefallen ist? Ich bin ganz sicher, sie würde auch versuchen, den Täter aufzuspüren, ja, sie würde in diesem Versuch den Sinn der ihr noch verbleibenden Lebenszeit sehen, nicht anders, als ich es für mich tu’.
Von unten drang das Läuten des Telefons herauf, aber er kümmerte sich nicht darum. Frau Engert und er hatten es so vereinbart. Der Anrufer war hartnäckig, erst nach etwa zehnmaligem Läuten verstummte der Apparat.
Er blieb in seinen Gedanken bei Maria, erinnerte sich daran, wie es ihm die Seele zerrissen hatte, daß sie so furchtbare Schmerzen erleiden mußte und deshalb jeder neue Tag immer beides gewesen war, geschenkte Zeit und verlängertes Martyrium. Das Zusammenleben mit Tilmann war damals Erschwernis und Hilfe zugleich gewesen. Die immer wiederkehrenden Fragen »Warum muß Mami sterben?« oder »Wann muß Mami sterben?« oder auch »Was sollen wir bloß machen, wenn Mami nicht mehr da ist?« hatten ihn gequält, aber dann wieder war der Kleine mit seiner Fähigkeit, trotz allen Kummers die Hausaufgaben ernst zu nehmen, von seinen Erlebnissen mit Lehrern und Schulfreunden zu berichten oder gar den Wunsch nach einem Meerschweinchen zu äußern, Hort gewesen für ihn, Zuflucht.
Erneut läutete das Telefon. Diesmal zählte er mit, kam auf dreizehnmal, sagte sich. Vielleicht ist es was Wichtiges, aber ich darf mich auf keinen Fall melden. Es könnte ja sogar der Schmächtige sein, der, nachdem er vorgestern vergeblich an meiner Haustür war, nun in der Nachbarschaft herumfragt.
Er trug das Kaffeegeschirr in die Küche, räumte dort ein bißchen auf, nahm sich einen Apfel aus dem Früchtekorb und ging wieder nach oben, und als er dann ins Zimmer trat, sah er auf dem Monitor, daß die Kamera lief. Er beeilte sich, sprang ans Fenster. Aber der Mann vor seinem Haus war nur der Schornsteinfeger, den er seit langem kannte.
Frau Engert kam um halb vier zurück. Wenige Minuten später läutete schon wieder das Telefon, und gleich darauf erfuhr er, daß es um ihn ging und daß auch die vorherigen Anrufe ihm gegolten hatten. Es war sein Onkel. Er lief ins Wohnzimmer hinunter, nahm den Hörer in die Hand.
»Hallo, da bin ich. Du hast es also schon zweimal versucht. Tut mir leid, aber es wäre paradox, beides zu machen, sich zu verstecken und an die Tür oder ans Telefon zu gehen.«
»Und bei dieser Regelung solltest du auch bleiben«, sagte der Onkel, und Kämmerer spürte sofort, einmal an den Worten, aber auch an dem ernsten, wenn nicht gar ängstlichen Tonfall, daß

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