1Q84: Buch 1&2
ein langes Stück auswendig spielen kann. Aomame verfügte über ein minutiöses Gedächtnis hinsichtlich der kleinsten körperlichen Eigenschaften. Auch wenn sie etwas kurzzeitig vergaß, erinnerten sich ihre Fingerspitzen sofort wieder daran. Fühlte sich irgendein Muskel auch nur geringfügig anders an als sonst, stimulierte sie ihn aus verschiedenen Winkeln und mit unterschiedlichem Kraftaufwand, um zu prüfen, wie er reagierte: mit Schmerz, mit Wohlbehagen, mit Taubheit. Sie lockerte nicht nur die steifen und blockierten Bereiche, sie zeigte der alten Dame auch, wie sie diese Muskeln aus eigener Kraft lockern konnte. Natürlich gab es Teile, auf die man selbst nur schwer Einfluss nehmen konnte. Solche Stellen dehnte sie besonders sorgfältig. Was Muskeln allerdings am meisten schätzten, war ein tägliches Training.
»Tut das weh?«, fragte Aomame. Die Oberschenkelmuskulatur fühlte sich sehr viel steifer an als gewöhnlich. Fast verhärtet. Sie legte die Hand in den Beckenzwischenraum und drehte den Schenkel in einem speziellen Winkel.
»Sehr«, sagte die alte Dame, wobei sie das Gesicht verzog.
»Gut. Schmerzempfinden ist eine gute Sache. Wenn Sie keinen Schmerz verspüren würden, wäre es schlimm. Können Sie noch etwas mehr aushalten?«
»Natürlich«, erwiderte die alte Dame. Aomame hätte gar nicht zu fragen brauchen. Die alte Dame gehörte zu den Charakteren, die eine Menge ertragen konnten. Und meist sogar schweigend. Sie verzog vielleicht einmal das Gesicht, aber kaum ein Laut kam über ihre Lippen. Aomame hatte schon mehrmals erlebt, dass auch große kräftige Männer während ihrer Massage unwillkürlich laut aufschrien. Immer wieder musste sie die starke Willenskraft der alten Dame bewundern.
Aomame setzte nun ihren rechten Ellbogen als Hebel an und drehte den Oberschenkel weiter. Ein scharfes Knacken war zu hören, und das Gelenk bewegte sich. Die alte Dame sog die Luft ein, gab aber keinen Laut von sich.
»Jetzt wird es besser sein«, sagte Aomame. »Sie werden Erleichterung verspüren.«
Die alte Dame stieß einen langen Seufzer aus. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn. »Danke«, flüsterte sie.
Genau eine Stunde lang massierte Aomame die alte Dame, stimulierte die Muskeln, dehnte sie und lockerte die Gelenke. Das alles tat sicher ziemlich weh. Aber ohne Schmerzen keine Lösung. Aomame wusste das, und die alte Dame wusste es auch. So verbrachten die beiden diese Stunde in fast völligem Schweigen. Die Blockflötensonate ging irgendwann zu Ende, der CD-Spieler verstummte. Außer den Stimmen der Vögel, die in den Garten kamen, war nichts zu hören.
»Mein ganzer Körper fühlt sich viel leichter an«, sagte die alte Dame nach einer gewissen Zeit. Gelöst und entspannt lag sie auf dem Bauch. Das große Badetuch, das über die Massageliege gebreitet war, war dunkel von Schweiß.
»Das freut mich«, antwortete Aomame.
»Sie sind mir eine große Hilfe. Es wäre schlimm, wenn ich Sie nicht hätte.«
»Keine Sorge. Ich habe momentan nicht die Absicht zu verschwinden.«
Nachdem die alte Dame sich im Schweigen verfangen hatte, als würde sie zögern, fragte sie: »Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber gibt es jemanden, den Sie lieben?«
»Ja, den gibt es«, sagte Aomame.
»Das freut mich.«
»Leider liebt dieser Jemand mich nicht.«
»Vielleicht finden Sie die Frage etwas seltsam«, sagte die alte Dame. »Aber warum liebt dieser Jemand Sie nicht? Objektiv betrachtet sind Sie eine äußerst betörende junge Frau.«
»Weil er nicht weiß, dass es mich gibt.«
Die alte Dame ließ ihre Gedanken einen Moment um das kreisen, was Aomame gesagt hatte. »Meinen Sie nicht, dass Sie ihn über den Umstand Ihrer Existenz aufklären sollten?«
»Im Augenblick nicht«, sagte Aomame.
»Gibt es da einen Grund? Aus dem Sie sich ihm Ihrerseits nicht nähern können?«
»Ja, alle möglichen Gründe. Aber vor allem sind meine eigenen Gefühle das Problem.«
Die alte Dame blickte Aomame verwundert ins Gesicht. »Ich bin ja schon vielen seltsamen Menschen begegnet, aber Sie sind vielleicht einzigartig.«
Aomame verzog leicht die Mundwinkel. »So besonders seltsam bin ich nicht. Ich bin nur ehrlich zu mir selbst.«
»Sie folgen den Regeln, die Sie einmal für sich aufgestellt haben.«
»Ja.«
»Ein wenig stur und verbissen.«
»Kann schon sein.«
»Aber gestern Abend haben Sie über die Stränge geschlagen, stimmt’s?«
Aomame errötete. »Das merken Sie?«
»Das erkenne ich an Ihrer
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