1Q84: Buch 1&2
euch überhaupt erkennen würdet, wenn ihr auf der Straße aneinander vorbeigeht?«
Aomame nickte. »Ganz egal, wie sehr er sich verändert hat, ich würde ihn auf den ersten Blick erkennen. Ohne jeden Zweifel.«
»Wirklich?«
»Doch, ganz sicher.«
»Du hoffst also allen Ernstes auf diese zufällige Begegnung?«
»Deshalb gehe ich nie unaufmerksam durch die Straßen.«
»Hm«, machte Ayumi. »Und obwohl du ihn so sehr liebst, macht es dir nichts aus, mit anderen Männern Sex zu haben? Also seit deinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr.«
Aomame überlegte kurz. »Ach, das sind doch nur vorübergehende Geschichten. Von denen nichts zurückbleibt.«
Die beiden schwiegen eine Weile und konzentrierten sich auf ihre Speisen. Ayumi sprach als Erste. »Verzeih mir die aufdringliche Frage, aber ist irgendetwas geschehen, als du sechsundzwanzig warst?«
Aomame nickte. »Ja, damals ist etwas geschehen, das mich völlig verändert hat. Aber das kann ich dir nicht hier und jetzt erzählen. Entschuldige.«
»Völlig in Ordnung«, sagte Ayumi. »Du nimmst es mir doch nicht übel, dass ich so hartnäckig frage?«
»Kein bisschen«, sagte Aomame.
Die Suppe wurde serviert, und sie aßen schweigend. Dann legten sie ihre Löffel ab, und der Kellner räumte ab. Erst jetzt nahmen sie ihr Gespräch wieder auf.
»Aber hast du denn gar keine Angst, Aomame?«
»Wovor zum Beispiel?«
»Davor, dass du ihm vielleicht nie begegnest. Natürlich gibt es solche Zufälle. Ich würde das auch am schönsten finden und wünsche es dir von Herzen. Aber realistisch betrachtet ist es doch viel wahrscheinlicher, dass ihr euch niemals wiederseht. Oder gesetzt den Fall, ihr trefft euch wieder, aber er ist schon mit einer anderen Frau verheiratet. Und hat womöglich zwei Kinder. Könnte doch sein, oder? Dann würdest du dein ganzes restliches Leben allein verbringen. Ohne mit dem einzigen Menschen auf der Welt, den du liebst, zusammen sein zu können. Macht dir diese Vorstellung denn keine Angst?«
Aomame betrachtete den roten Wein in ihrem Glas. »Vielleicht habe ich wirklich Angst. Aber zumindest habe ich jemanden, den ich liebe.«
»Auch wenn der andere dich vielleicht gar nicht liebt?«
»Es genügt, einen einzigen Menschen von ganzem Herzen zu lieben, denn dann gibt es eine Rettung im Leben. Auch wenn man mit diesem Menschen nicht zusammen sein kann.«
Ayumi dachte eine Weile nach. Der Kellner kam, um ihnen nachzuschenken, und Aomame nahm einen Schluck. Ayumi hat recht, dachte sie, wer würde sich über diesen herrlichen Wein beschweren?
»Du bist einmalig, Aomame. So voller Weisheit!«
»Das ist keine Weisheit. Nur meine ehrliche Meinung.«
»Ich habe auch mal jemanden geliebt«, gestand Ayumi. »Den Mann, mit dem ich gleich nach der Oberschule zum ersten Mal geschlafen habe. Er war drei Jahre älter als ich. Danach war er sofort mit einem anderen Mädchen zusammen. Das hat mich ziemlich mitgenommen. Ich war sehr verletzt. Der Mann bedeutet mir längst nichts mehr, aber die Verletzung ist noch immer nicht richtig geheilt. Ein hinterhältiger Kerl, der zweigleisig gefahren ist. So ein aalglatter Typ. Trotzdem habe ich mich in ihn verliebt.«
Aomame nickte. Auch Ayumi nahm ihr Weinglas und trank.
»Der ruft mich sogar jetzt noch manchmal an. Ob wir uns nicht mal treffen wollen. Natürlich will er nur Sex. Das weiß ich ganz genau. Deshalb treffe ich mich auch nicht mit ihm, sonst würde es wieder fürchterlich werden. Aber auch wenn ich es im Kopf kapiert habe, reagiert mein Körper ganz anders. Ich sehne mich danach, von ihm in die Arme genommen zu werden. Und wenn dann eins zum anderen kommt, möchte ich ab und zu richtig loslassen. Kannst du das verstehen?«
»Ja, kann ich«, sagte Aomame.
»Im Grunde ist der Typ ja das Letzte. Fieser Charakter und im Bett auch eine ziemliche Null. Aber er hat wenigstens keine Angst vor mir. Und zumindest ist er aufrichtig um mich bemüht.«
»Gefühle kannst du dir nicht aussuchen«, sagte Aomame. »Sie dringen einfach von außen in dich ein. Das ist schon etwas anderes, als ein Gericht von der Speisekarte zu wählen.«
»Aber wenn du dich für das Falsche entschieden hast, bereust du es in beiden Fällen.«
Beide lachten.
»Wir sind so erpicht darauf, selbst zu entscheiden, ob es nun um Männer geht oder Speisekarten«, sagte Aomame, »dabei haben wir in Wirklichkeit womöglich nicht mal die Wahl. Vielleicht bilden wir uns nur ein, sie zu haben, und doch ist alles von Anfang an
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