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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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überhaupt nicht so. Ich dachte eher, du wärst von Kindheit an feine Restaurants gewöhnt.«
    Tamaki Otsuka hatte Aomame in all diese Dinge eingeführt. Wie man sich in eleganten Restaurants benahm, ohne sich zu blamieren, wenn man ein Gericht auswählte, wie man Wein oder ein Dessert bestellte, wie man sich Kellnern gegenüber verhielt, wie man Besteck korrekt benutzte, all das hatte Tamaki gewusst und Aomame beigebracht. Auch sich zurechtzumachen – Kleidung, Schmuck und Accessoires auszuwählen und sich zu schminken – hatte Aomame von Tamaki gelernt. All das war für Aomame völliges Neuland gewesen. Tamaki hingegen war in einem wohlhabenden Haus in der Oberstadt aufgewachsen, und ihre Mutter, eine Dame der Gesellschaft, hatte stets übermäßig auf die Manieren und die Garderobe ihrer Tochter geachtet. Deshalb verfügte Tamaki schon als Oberschülerin über große Weltläufigkeit. Auch an Orten, an denen für gewöhnlich nur Erwachsene verkehrten, bewegte sie sich völlig souverän. Aomame hatte diese Kenntnisse gierig aufgesogen. Hätte sie nicht zufällig in Tamaki eine so gute Lehrerin gefunden, wahrscheinlich wäre ein ganz anderer Mensch aus ihr geworden. Manchmal hatte Aomame sogar insgeheim das Gefühl, dass Tamaki in ihr weiterlebte.
    Ayumi war anfangs etwas aufgeregt gewesen, aber je mehr sie von dem Wein trank, desto gelöster wurde sie.
    »Du, Aomame, ich würde dich gern etwas fragen«, sagte Ayumi. »Du brauchst natürlich nicht zu antworten, wenn du nicht willst. Aber ich möchte es wirklich gern wissen. Verärgern will ich dich natürlich auch nicht.«
    »Wirst du schon nicht.«
    »Ich meine es nicht böse, auch wenn ich manchmal komische Fragen stelle. Das weißt du ja. Ich bin nur so neugierig. Aber manche Leute werden gleich unheimlich sauer.«
    »Okay, ich werde nicht sauer.«
    »Wirklich nicht? Das sagen alle, und dann werden sie doch sauer.«
    »Ich bin die Ausnahme. Frag schon.«
    »Als du klein warst, hat da ein Mann mal was Komisches mit dir gemacht?«
    Aomame schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Wieso?«
    »Nur eine Frage. Wenn nicht, umso besser«, sagte Ayumi. Dann wechselte sie das Thema. »Hast du schon mal einen Freund gehabt? Eine ernstzunehmende Beziehung, meine ich.«
    »Nein.«
    »Überhaupt nie?«
    »Nein, nie«, sagte Aomame. Sie zögerte. »Ehrlich gesagt war ich bis zu meinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr Jungfrau.«
    Ayumi verschlug es für einen Moment die Sprache. Sie legte Messer und Gabel ab und wischte sich mit der Serviette den Mund. Eine Weile starrte sie Aomame forschend ins Gesicht.
    »Eine so schöne Frau wie du? Unglaublich.«
    »Ich hatte überhaupt kein Interesse.«
    »An Männern?«
    »Nur an einem«, sagte Aomame. »Ich habe mich mit zehn Jahren in ihn verliebt und seine Hand gehalten.«
    »Du hast dich mit zehn Jahren in einen Jungen verliebt? Und das war alles?«
    »Ja.«
    Ayumi nahm Messer und Gabel und zerschnitt nachdenklich eine junge Garnele. »Und wo ist dieser Junge jetzt, und was macht er?«
    Aomame zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. In Ichikawa waren wir im dritten und vierten Schuljahr in einer Klasse. In der fünften bin ich auf eine Schule in der Innenstadt gekommen, und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen oder gesprochen. Falls er noch lebt, muss er jetzt neunundzwanzig Jahre alt sein, mehr weiß ich nicht von ihm. Wahrscheinlich wird er im Herbst dreißig.«
    »Heißt das, du willst nicht herausfinden, wo er jetzt ist und was er macht? Allzu schwer dürfte das doch nicht sein.«
    Aomame schüttelte heftig den Kopf. »Ich hatte nie Lust, nach ihm zu forschen.«
    »Komisch. Also, ich an deiner Stelle würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihn zu finden. Wenn du ihn so magst, wäre es doch das Beste, ihm deine Liebe zu gestehen.«
    »Aber das will ich nicht«, sagte Aomame. »Ich will, dass wir uns eines Tages zufällig begegnen. Zum Beispiel, dass wir auf der Straße aneinander vorbeigehen oder in denselben Bus einsteigen oder so was.«
    »Eine schicksalhafte Begegnung.«
    »Ja, so was in der Art«, sagte Aomame und nahm einen Schluck Wein. »Dann würde ich ihm alles sagen. Dass er die einzige Liebe meines Lebens ist.«
    »Das finde ich unheimlich romantisch«, sagte Ayumi leicht resigniert. »Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ihr euch wirklich begegnet, ist ziemlich gering, fürchte ich. Schließlich habt ihr euch zwanzig Jahre nicht gesehen, und er hat sich bestimmt äußerlich ganz schön verändert. Ob ihr

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