1Q84: Buch 1&2
recht überzeugend. Komatsu war lang und dünn, sein Mund unverhältnismäßig groß, die Nase unverhältnismäßig klein. Er hatte schlaksige Arme und Beine, und seine Finger waren gelb vom Nikotin. Er erinnerte an einen der Revolutionäre aus einer heruntergekommenen Intelligenzija, wie sie in russischen Romanen des 19. Jahrhunderts vorkommen. Er lachte so gut wie nie, aber wenn, dann über das ganze Gesicht. Doch selbst dann sah er nie besonders fröhlich aus, sondern lediglich wie ein überalterter Zauberlehrling, der kichernd unheilvolle Weissagungen erstellte. Er war reinlich und achtete auf seine äußere Erscheinung, trug aber immer etwas Ähnliches, vermutlich, um der Welt zu zeigen, wie gering sein Interesse an Kleidung war. Seine Uniform bestand aus Tweedjacketts, weißen Oxfordhemden oder grauen Poloshirts, grauen Hosen und Wildlederschuhen. Eine Krawatte trug er nie. Man konnte förmlich vor sich sehen, wie das in Farbe, Herkunft und Größe kaum zu unterscheidende halbe Dutzend Tweedjacketts mit drei Knöpfen sorgfältig ausgebürstet bei ihm zu Hause im Schrank hing. Wahrscheinlich hatte er sie durchnummeriert, um sie auseinanderhalten zu können.
Komatsus festes, an Draht erinnerndes Haar, das ihm bis über die Ohren reichte, war an der Stirn bereits leicht ergraut und stets etwas zerzaust. Seltsamerweise hatte es immer die gleiche Länge, selbst wenn sein letzter Friseurbesuch erst eine Woche zurücklag. Tengo konnte sich nicht erklären, wie das möglich war. Bisweilen blitzten Komatsus Augen scharf auf, wie Sterne an einem winterlichen Nachthimmel. Falls er aus irgendeinem Grund einmal in Schweigen verfiel, schwieg er mit der Finalität eines Felsens auf der Rückseite des Mondes. Sein Gesicht wurde nahezu ausdruckslos, und selbst seine Körpertemperatur schien abzusinken.
Tengo hatte Komatsu fünf Jahre zuvor kennengelernt. Damals hatte er sich bei der Literaturzeitschrift, die Komatsu mitherausgab, um einen Preis für das beste Erstlingswerk beworben und war in die Endauswahl gelangt. Komatsu hatte ihn angerufen und um ein Treffen gebeten. Sie verabredeten sich in einem Café in Shinjuku (dem gleichen, in dem sie auch jetzt saßen). Für das jetzige Buch werde Tengo den Preis nicht bekommen, hatte Komatsu ihm eröffnet. (Er bekam ihn tatsächlich nicht.) Aber er persönlich habe Gefallen an Tengos Arbeit gefunden. »Ich erwarte keinen Dank, aber es kommt sehr selten vor, dass ich das zu jemandem sage«, erklärte Komatsu. (Damals wusste Tengo das noch nicht, aber es entsprach der Wahrheit.) »Wenn du also dein nächstes Buch schreibst, möchte ich, dass du es mich lesen lässt. Als Ersten, vor allen anderen.« Tengo war einverstanden.
Komatsu wollte außerdem wissen, was für ein Mensch Tengo war. Woher er kam und was er im Augenblick tat. Tengo berichtete so aufrichtig wie möglich. Er war in Ichikawa in der Präfektur Chiba geboren und aufgewachsen. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt erkrankt und gestorben. So hatte es ihm zumindest sein Vater erzählt. Geschwister hatte er keine. Sein Vater hatte nicht wieder geheiratet und Tengo mit Hilfe einer männlichen Hilfskraft aufgezogen. Früher hatte er für den staatlichen Sender NHK Rundfunkgebühren kassiert. Inzwischen war er an Alzheimer erkrankt und lebte in einem Sanatorium an der Südspitze der Boso-Halbinsel. Tengo hatte an der Universität Tsukuba einen Studiengang mit der sonderbaren Bezeichnung »Fachbereich 1 für Naturwissenschaft und Mathematik im Hauptfach« absolviert und schrieb jetzt Romane. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Mathematikunterricht an einer Yobiko, einer der vielen privaten Institutionen, die in Japan die Studienanwärter auf die Aufnahmeprüfungen der Universitäten vorbereiten. Diese Schule lag im Tokioter Stadtteil Yoyogi. Nach dem Examen hatte er sich zunächst als Lehrer am Präfekturgymnasium seines Heimatorts versucht, sich dann jedoch wegen der flexibleren Arbeitszeiten und der größeren Unabhängigkeit für die Yobiko entschlossen. Er lebte allein in einer kleinen Wohnung in Koenji.
Er wisse selbst nicht, ob er wirklich Schriftsteller von Beruf werden wolle. Auch nicht, ob er wirklich Talent zum Schreiben habe. Nur dass er jeden Tag schreiben müsse, das sei ihm klar. Schreiben sei für ihn wie Atmen. Komatsu hörte ihm ruhig zu, ohne sich dazu zu äußern.
Tengo wusste nicht, warum, aber Komatsu schien eine persönliche Zuneigung zu ihm entwickelt zu haben. Äußerlich vermittelte Tengo den
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