1Q84: Buch 1&2
fanden Bewertungen der Lehrer durch die Schüler statt, und wenn die Einschätzung gut ausfiel, erhöhte sich die Bezahlung entsprechend. Andernfalls, so befürchtete man, könnten besonders gute Lehrkräfte von anderen Schulen abgeworben werden (und tatsächlich war es bereits zu Headhunting gekommen). An gewöhnlichen Regelschulen gab es dieses System nicht. Bezahlt wurde dort nach Alter, die Vorgesetzten kontrollierten das Privatleben, und weder Leistung noch Beliebtheit oder solche Dinge waren von Bedeutung. An der Yobiko zu unterrichten machte Tengo Spaß. Die Mehrzahl der Schüler hatte ein klar umrissenes Ziel, nämlich die Aufnahmeprüfung für eine Universität zu bestehen, und entsprechend konzentriert folgten sie seinen Ausführungen. Außer dem Unterricht vor der Klasse hatte der Lehrer keine Pflichten. Es kam Tengo sehr entgegen, sich nicht mit lästigen Problemen wie Fehlverhalten und Verstößen gegen die Schulordnung seitens der Schüler abgeben zu müssen. Er brauchte nur am Pult zu stehen und ihnen beizubringen, wie man bestimmte mathematische Aufgaben löste. Und was den rein ideellen Umgang mit Zahlen betraf, war Tengo ein Naturtalent.
An seinen freien Tagen stand er früh auf und schrieb meist bis abends. Er benutzte einen Montblanc-Füllfederhalter mit blauer Tinte und 400-Zeichen-Manuskriptpapier. Das allein schon verschaffte Tengo ein Gefühl der Befriedigung. Einmal in der Woche besuchte ihn seine verheiratete Freundin in seiner Wohnung, und er verbrachte den Nachmittag mit ihr. Eine sexuelle Beziehung mit einer zehn Jahre älteren Frau zu haben war sehr bequem und beinhaltete keine Verpflichtungen. Nachmittags machte er lange Spaziergänge, und nach Sonnenuntergang las er und hörte Musik dabei. Er sah nie fern. Wenn der Kassierer von NHK kam, um die Gebühren einzusammeln, wies er ihn höflich ab. Es tut mir leid, aber ich habe keinen Fernsehapparat. Wirklich nicht. Sie können reinkommen und nachsehen.
Doch nie betrat einer seine Wohnung. Denn das ist den Gebühreneinsammlern gar nicht gestattet.
»Das, was ich mir überlegt habe, ist ein größeres Kaliber«, sagte Komatsu.
»Ein größeres Kaliber?«
»Womit ich nicht sagen will, dass der Debütpreis Kleinkram ist, aber das, was ich vorhabe, hat ein anderes Format.«
Tengo schwieg. Er konnte sich nicht vorstellen, was es war. Aber er spürte, dass es um etwas Riskantes ging.
»Der Akutagawa-Preis«, sagte Komatsu nach einer Pause.
»Der Akutagawa-Preis«, wiederholte Tengo, als habe Komatsu das Wort riesengroß mit einem Stock in nassen Sand geschrieben.
»Ja, den kennt doch wohl auch mein etwas weltfremder Tengo. Steht groß in der Zeitung und wird in den Fernsehnachrichten gebracht.«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Herr Komatsu. Sprechen Sie von Fukaeri?«
»Du hast es erfasst. Wir nehmen ›Die Puppe aus Luft‹. Sonst haben wir ja nichts, was zur Sensation taugen würde.«
Tengo kaute auf seinen Lippen und versuchte Komatsus Pläne zu durchschauen. »Aber Sie haben doch die ganze Zeit gesagt, es hätte keinen Zweck, ein Manuskript in diesem Zustand vorzuschlagen.«
»Ganz recht. Nicht in dem Zustand. Das ist ein klarer Fall.«
Tengo brauchte etwas Zeit zum Nachdenken. »Soll das heißen, wir bearbeiten das eingereichte Manuskript?«
»Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Es ist gängige Praxis, dass Redakteure vielversprechende Manuskripte noch mal überarbeiten lassen. Kommt gar nicht selten vor. Allerdings wird in unserem Fall nicht die Autorin selbst das Werk überarbeiten, sondern jemand anderes.«
»Jemand anderes?«, fragte Tengo, obwohl er die Antwort schon kannte, noch ehe er die Frage gestellt hatte. Nur um ganz sicherzugehen.
»Du wirst diese Aufgabe übernehmen«, verkündete Komatsu.
Tengo rang nach passenden Worten, aber er fand keine. Er seufzte. »Aber Herr Komatsu«, wandte er ein. »Bei diesem Text genügt es nicht, ein paar Korrekturen vorzunehmen. Wenn man ihn nicht radikal von vorn bis hinten umschreibt, ergibt er keine Einheit.«
»Natürlich schreibst du alles von vorn bis hinten um. Die Geschichte verwendest du als Gerüst. Auch die stilistische Atmosphäre sollte so weit wie möglich erhalten bleiben. Aber der Text muss vollständig umgeschrieben werden. Eine Adaption, sozusagen. Du bist für die praktische Umarbeitung zuständig. Und ich gebe das Ganze dann heraus.«
»Ob das gutgeht?«, sagte Tengo eher zu sich selbst.
»Wird schon«, sagte Komatsu, nahm seinen Teelöffel und
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