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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Kinderprostitution war – bei Mädchen und Jungen – an der Tagesordnung. Die meisten Menschen führten ein armseliges Dasein, weit entfernt von geistigen Werten und seelischer Empfindsamkeit. In den Straßen der Städte wimmelte es von Leibeigenen, Bettlern und Schurken. Gefühlvoll den Mond zu betrachten, Shakespeares Stücke zu genießen und Dowlands schöner Musik zu lauschen, war vermutlich nur einem winzigen Teil der Menschheit vergönnt.«
    Die alte Dame lächelte. »Sie sind ein Mensch mit ausgeprägten Interessen.«
    »Ich bin ganz durchschnittlich«, sagte Aomame. »Ich lese nur sehr gern. Hauptsächlich Bücher über Geschichte.«
    »Das tue ich auch gern. Die Geschichte lehrt uns, dass Vergangenheit und Gegenwart im Grunde eins sind. Ganz gleich, wie sehr wir uns in Garderobe und Lebensart unterscheiden, unsere Gedanken und Taten sind gar nicht so unterschiedlich. Wir Menschen sind letztlich nur Träger von Genen. Auf ihrem Weg reiten sie auf uns von Generation zu Generation, gerade so, wie man Pferde zu Tode reitet. Die Gene denken nicht in Kategorien von Gut und Schlecht. Wir haben Glück oder Pech mit ihnen, aber sie wissen nichts davon. Denn wir sind nicht mehr als ein Mittel zum Zweck. Für die Gene zählt nur, was für sie selbst den größten Nutzen bringt.«
    »Dennoch ist es uns unmöglich, nicht darüber nachzudenken, was gut und was schlecht ist. Nicht wahr?«
    Die alte Dame nickte. »So ist es. Wir Menschen müssen ständig darüber nachdenken. Und dennoch sind es die Gene, die unsere Lebensweise von Grund auf beherrschen. Selbstverständlich entstehen aus dieser Situation Widersprüche«, sagte sie und lächelte.
    An dieser Stelle endete ihr Gespräch. Sie tranken ihren Kräutertee aus und gingen zu ihren Kampfsportübungen über.
    Anschließend nahmen sie in der Villa eine leichte Mahlzeit ein.
    »Ich kann Ihnen nur eine Kleinigkeit anbieten. Ich hoffe, es genügt?«, sagte die alte Dame.
    »Natürlich«, sagte Aomame.
    Tamaru fuhr das Essen auf einem Servierwagen herein. Die Zubereitung oblag einem Koch, aber das Servieren war seine Aufgabe. Er entkorkte den Weißwein, der in einem Kühler mit Eis stand, und schenkte mit geübter Hand ein. Die alte Dame und Aomame tranken. Der Wein hatte ein feines Bouquet und war genau richtig temperiert. Das Menü bestand aus gekochtem weißem Spargel, Salat Niçoise und Omelette mit Krebsfleisch. Dazu wurden Brötchen und Butter gereicht. Alle Zutaten waren frisch und schmackhaft. Die Portionen hatten gerade die richtige Größe. Die alte Dame nahm ohnehin immer sehr wenig zu sich. Wie ein kleiner Vogel. Anmutig mit Messer und Gabel hantierend, schob sie sich winzige Bissen in den Mund. Während sie aßen, hielt sich Tamaru die ganze Zeit über unauffällig in einer entfernten Ecke des Raumes bereit. Dass ein Mann von seiner Statur sich so lange nahezu unsichtbar machen konnte, versetzte Aomame stets aufs Neue in Erstaunen.
    Die beiden Frauen konzentrierten sich ganz auf ihre Mahlzeit und sprachen nur gelegentlich. Leise Musik erklang. Ein Cellokonzert von Haydn, für das die alte Dame ebenfalls eine Vorliebe hegte.
    Es wurde abgeräumt und eine Kanne mit Kaffee serviert. Als Tamaru sich bückte, um einzuschenken, hob die alte Dame einen Finger.
    »Ich brauche Sie jetzt nicht mehr, danke«, sagte sie.
    Tamaru verbeugte sich leicht und verließ wie immer geräuschlos den Raum. Er schloss leise die Tür. Während die beiden ihren Kaffee tranken, endete die CD, und Stille senkte sich über den Wintergarten.
    »Sie und ich, wir vertrauen einander. Nicht wahr?«, sagte die alte Dame und sah Aomame ins Gesicht.
    Aomame stimmte ihr knapp, aber ohne Vorbehalt zu.
    »Wir teilen ein bedeutendes Geheimnis«, sagte die alte Dame. »Wir verlassen uns sozusagen aufeinander.«
    Aomame nickte schweigend.
    Hier in diesem Wintergarten hatte Aomame der alten Dame ihr Geheimnis anvertraut. Sie erinnerte sich noch genau daran. Irgendwann hatte sie nicht mehr anders gekonnt, eine Grenze war erreicht. Sie musste jemandem ihr Herz ausschütten. Sie konnte das, was auf ihrer Seele lastete, nicht mehr allein tragen. Also öffnete Aomame, als die alte Dame es ihr anbot, mit einem kühnen Stoß die lange verschlossene Tür zu ihrem Geheimnis und erzählte ihr alles.
    Dass ihre beste Freundin jahrelang von ihrem Mann misshandelt worden war, das seelische Gleichgewicht verloren hatte, nicht mehr entkommen konnte und schließlich ihren Qualen durch Selbstmord ein Ende bereitet

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