1Q84: Buch 1&2
Flut verschieben. Die Nachrichten wären voll davon. Unmöglich, davon nichts mitzubekommen. Das ist eine andere Dimension, als ungewollt einen Zeitungsartikel zu übersehen.
Aber bin ich wirklich verrückt? Kann ich das mit hundertprozentiger Sicherheit feststellen?
Aomame runzelte kurz die Stirn. Ständig ereignen sich seltsame Dinge um mich herum, dachte sie. Dinge verändern sich ohne mein Wissen. Als würde die Welt ein Spiel spielen, bei dem sich alles bewegen darf, sobald ich die Augen schließe. Angenommen es wäre so, dann wäre es auch gar nicht so seltsam, wenn am Himmel zwei Monde erscheinen. Als ich einmal nicht aufgepasst habe, ist zufällig von irgendwo aus dem Raum ein entfernter Cousin des Mondes aufgetaucht und hat beschlossen, sich im Gravitationsfeld der Erde ansässig zu machen.
Die Polizei hatte ihre Uniform und Bewaffnung vollständig erneuert. In den Bergen von Yamanashi war es zwischen Einheiten der Polizei und einer radikalen Gruppe zu einem Feuergefecht gekommen. All das war geschehen, ohne dass Aomame etwas davon mitbekommen hatte. Dann die Nachricht, dass Amerika und die Sowjetunion eine gemeinsame Mondbasis errichten wollten. Ob das in Zusammenhang mit der gestiegenen Anzahl der Monde stand? Sie wühlte in ihrem Gedächtnis. Hatte es in den Zeitungen, die sie in der Bücherei durchforstet hatte, einen Artikel gegeben, der sich auf einen neuen Mond bezogen haben könnte? Ihr fiel kein einziger ein.
Hätte sie nur jemanden fragen können. Aber wie sollte sie eine solche Frage formulieren? »Äh, übrigens, ich glaube, es gibt da jetzt auf einmal zwei Monde. Ob Sie vielleicht mal gucken könnten?« Das war in jedem Fall eine idiotische Frage. Falls es wirklich zwei Monde gab, wäre es seltsam, nichts davon zu wissen. Falls es aber wie bisher nur einen gab, würde man sie für verrückt halten.
Aomame ließ sich in den Rohrstuhl sinken, legte die Beine auf das Geländer und überlegte sich ungefähr zehn Möglichkeiten, wie sie die Frage stellen konnte. Sie klangen alle gleich idiotisch. Da konnte man nichts machen. Die Situation an sich war zu abwegig. Sie konnte niemanden fragen, das war offensichtlich.
Sie beschloss, das Problem mit dem zweiten Mond vorläufig beiseite zu lassen. Sie würde sich ihm später noch einmal widmen. Im Augenblick bereitete es ihr ja keine konkreten Schwierigkeiten. Vielleicht würde dieser Mond ja auch ebenso unversehens wieder verschwinden, wie er aufgetaucht war.
Um die Mittagszeit des folgenden Tages fuhr sie nach Hiroo ins Sportstudio, wo sie zwei Kampfsportkurse und eine Privatstunde zu geben hatte. Als sie kurz an der Rezeption stehen blieb, übergab man ihr eine Nachricht von der alten Dame aus Azabu. Das war ungewöhnlich. Aomame möge sie anrufen, sobald sie Zeit habe, stand darin.
Wie immer war Tamaru am Apparat. »Wenn es dir passt, sollst du morgen herkommen. Ihr werdet euer übliches Programm absolvieren und anschließend eine Kleinigkeit zusammen essen«, erklärte er Aomame.
»Du kannst ihr ausrichten, ich käme gegen vier Uhr und würde auch gern mit ihr zu Abend essen«, sagte Aomame.
»In Ordnung«, sagte Tamaru. »Also dann, morgen gegen vier.«
»Du, Tamaru? Hast du dir in letzter Zeit mal den Mond angeschaut?«, fragte Aomame.
»Den Mond?«, fragte Tamaru. »Den Mond am Himmel?«
»Genau den.«
»Nicht bewusst. Ich weiß nicht. Was ist mit dem Mond?«
»Ach, nichts«, sagte Aomame. »Also dann, bis morgen um vier Uhr.«
Tamaru zögerte einen Moment, dann legte er auf.
Auch in dieser Nacht waren es zwei Monde. Beide waren zwei Tage vom Vollmond entfernt. Lange betrachtete Aomame, ein Glas Brandy in der Hand, abwechselnd den großen und den kleinen Mond, wie man ein ganz und gar unlösbares Rätsel betrachtet. Je mehr sie schaute, desto rätselhafter erschien ihr das Ensemble. Am liebsten hätte sie sich an den Mond selbst gewandt und ihn gefragt. Wie kommt es, dass du plötzlich diesen kleinen grünen Kameraden bei dir hast? Aber natürlich konnte der Mond nicht antworten.
Seit undenklichen Zeiten betrachtete der Mond den Erdball ganz aus der Nähe. Niemand sonst kannte ihn so gut. Wahrscheinlich war er Zeuge aller Phänomene und Ereignisse, die jemals auf der Erde stattgefunden hatten. Aber der Mond schwieg und sprach nie. Kühl und ungerührt trug er die Last der vergangenen Zeiten. Dort oben gab es keine Luft und auch keinen Wind. Vielleicht war dieses Vakuum besonders gut geeignet, Erinnerungen unbeschädigt zu
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