1Q84: Buch 1&2
bewahren. Niemand konnte das Herz dieses Monds erweichen. Aomame erhob ihr Glas in seine Richtung.
»Hast du in letzter Zeit mal im Arm von jemandem geschlafen?«, fragte Aomame den Mond.
Der Mond antwortete nicht.
»Hast du Freunde?«, fragte sie.
Der Mond gab keine Antwort.
»Hast du dieses coole Leben nicht mitunter satt?«
Keine Antwort vom Mond.
Wie üblich war es Tamaru, der Aomame am Tor empfing.
»Ich habe mir gestern Abend den Mond angeschaut«, sagte er als Erstes.
»Aha?«, sagte Aomame.
»Du hast mich darauf gebracht. Der Mond ist schön, wenn man ihn nach langer Zeit mal wieder betrachtet. Es wird einem ganz friedlich zumute.«
»Hast du ihn gemeinsam mit deinem Freund angesehen?«
»Ja«, sagte Tamaru. Er legte einen Finger an den Nasenflügel. »Und was ist mit dem Mond?«
»Nichts«, sagte Aomame. Sie überlegte sich ihre Worte genau. »Er beschäftigt mich neuerdings irgendwie.«
»Ohne einen Grund?«
»Ohne Grund.«
Tamaru nickte stumm. Er schien etwas zu mutmaßen. Er war nicht überzeugt davon, dass sie wirklich keinen Grund hatte. Doch statt weiter in sie zu dringen, ging er Aomame voran, um sie in den Wintergarten zu führen. Die alte Dame saß im Trainingsanzug in einem Lehnstuhl und las ein Buch, während sie einer Instrumentalversion von »Lachrimae« von John Dowland lauschte. Es war eines ihrer Lieblingsstücke. Auch Aomame hatte es immer wieder gehört, und die Melodie war ihr vertraut.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie gestern so plötzlich herbestellt habe«, sagte die alte Dame. »Ich bin froh, dass Sie einen früheren Termin einrichten konnten, denn ich hatte gerade eine Lücke.«
»Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte Aomame.
Tamaru brachte das Tablett mit dem Kräutertee herein und schenkte etwas davon in zwei elegante Tassen ein. Dann verließ er den Raum und schloss die Tür. Still tranken die alte Dame und Aomame ihren Tee, während sie der Musik von Dowland zuhörten und die voll erblühten Azaleen im Garten betrachteten. Jedes Mal, wenn Aomame hierherkam, hatte sie das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Die Luft hatte eine gewisse Schwere, und die Zeit verfloss auf ganz eigene Weise.
»Diese Musik versetzt mich mitunter in eine seltsame Stimmung«, sagte die alte Dame, als habe sie in Aomames Gemüt gelesen. »Ist die Vorstellung, dass Menschen vor vierhundert Jahren die gleiche Musik gehört haben, nicht seltsam?«
»Ja, wirklich«, sagte Aomame. »Wenn man es richtig bedenkt, haben die Menschen vor vierhundert Jahren auch den gleichen Mond gesehen wie wir.«
Die alte Dame musterte Aomame ein wenig erstaunt. Dann nickte sie. »Eigentlich haben Sie recht. Wenn man es so sieht, ist es vielleicht gar nicht so verwunderlich, dass wir eine Musik hören, von der uns vier Jahrhunderte trennen.«
»Vielleicht sollte man sagen, es ist fast der gleiche Mond.« Aomame sah die alte Dame aufmerksam an. Aber ihre Äußerung schien kein besonderes Interesse bei ihr zu wecken.
»Das Konzert auf der CD wurde mit antiken Instrumenten aufgeführt«, sagte die alte Dame. »Und nach den damaligen Noten gespielt. Somit müsste die Musik ungefähr den gleichen Klang haben wie einst. Ebenso wie der Mond noch der gleiche ist.«
»Auch wenn die Dinge die gleichen sind, so ist doch die Art, in der die Menschen sie jetzt wahrnehmen, eine ganz andere. Die nächtliche Dunkelheit war damals viel tiefer, ja, es muss stockfinster gewesen sein. Entsprechend wirkte der Mond sicher viel heller und größer. Und es gab natürlich auch keine Schallplatten, Tonbänder oder CDs. Die Menschen konnten nicht nach Belieben so rein klingende Musik hören. Sie war etwas ganz Besonderes.«
»Sie haben recht«, gab die alte Dame zu. »All der Komfort, in dem wir leben, hat uns abgestumpft, nicht wahr? Auch wenn der Mond am Himmel noch derselbe ist, sehen wir ihn doch ganz anders. Vielleicht waren wir vor vierhundert Jahren geistig reicher und der Natur viel näher.«
»Aber es war auch eine grausame Welt. Über die Hälfte der Menschen starb bereits im Kindesalter an Seuchen und Unterernährung. Polio, Tuberkulose, Pocken und Masern kosteten viele Menschen schon früh das Leben. Im einfachen Volk wurden nicht viele älter als vierzig Jahre. Die Frauen bekamen ein Kind nach dem anderen und waren mit dreißig zahnlose Großmütter. Gewalt war häufig das einzige Mittel, um zu überleben. Kinder mussten von klein auf Schwerstarbeit verrichten, die ihre Knochen deformierte, und
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