1Q84: Buch 1&2
hatte. Dass sie, Aomame, kaum ein Jahr später das Haus des Mannes aufgesucht und geschickt eine Situation herbeigeführt hatte, die es ihr ermöglichte, ihm eine spitze Nadel in den Nacken zu rammen und ihn so zu töten. Mit nur einem Stich, ohne dass Blut floss oder eine Wunde zurückblieb. Alle glaubten, er sei aufgrund einer Erkrankung eines natürlichen Todes gestorben. Niemand meldete auch nur den geringsten Zweifel an. Aomame hatte nicht das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben. Dieser Meinung war sie auch jetzt nicht. Sie hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Aber, so sagte sie zu der alten Dame, das könne die Schwere ihrer Tat – die vorsätzliche Vernichtung eines menschlichen Lebens – nicht mindern.
Es war ein ausführliches Geständnis, und Aomame sprach mit erstickter Stimme. Schweigend lauschte die alte Dame, bis sie ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte. Dann erst stellte sie einige Fragen zu verschiedenen Einzelheiten, die ihr nicht ganz klar waren. Schließlich drückte sie lange und fest Aomames Hand.
»Sie haben das Richtige getan«, erklärte die alte Dame langsam. »Wäre dieser Mann am Leben geblieben, hätte er früher oder später einer anderen Frau etwas Ähnliches angetan. Irgendwo hätte er immer wieder ein Opfer gefunden. Und alles hätte sich wiederholt. Sie haben dieses Übel an der Wurzel gepackt. Das ist etwas anderes, als nur persönliche Rache zu nehmen. Seien Sie also ganz ruhig.«
Aomame vergrub das Gesicht in den Händen und weinte rückhaltlos. Es war Tamaki, um die sie weinte. Die alte Dame zog ein Taschentuch hervor und wischte ihr die Tränen ab.
»Es ist ein seltsamer Zufall«, sagte sie mit fester, ruhiger Stimme. »Aber auch ich habe aus dem gleichen Grund einen Menschen vernichten lassen.«
Aomame hob das Gesicht und blickte die alte Dame an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wovon redete sie?
»Natürlich habe ich das nicht mit meinen eigenen Händen getan«, fuhr die alte Dame fort. »Dazu besitze ich gar nicht die körperliche Kraft, und eine besondere Technik, so wie Sie, beherrsche ich auch nicht. Ich habe andere Mittel angewandt, um diesen Mann zu vernichten . Ohne einen einzigen konkreten Beweis zu hinterlassen. Es ist faktisch unmöglich, mir etwas nachzuweisen, es sei denn, ich würde mich stellen und ein Geständnis ablegen. Es ist genau wie in Ihrem Fall. Sollte es so etwas wie ein Jüngstes Gericht geben, wird Gott über mich urteilen. Aber davor fürchte ich mich nicht im Geringsten. Ich habe nichts Falsches getan. Ich nehme für mich in Anspruch, eine Rechtfertigung zu haben.«
Die alte Dame seufzte beinahe erleichtert. Dann fuhr sie fort: »Wir teilen nun bedeutende Geheimnisse, nicht wahr?«
Aomame hatte noch immer nicht richtig verdaut, was die alte Dame ihr erzählt hatte. Vernichten lassen? Mit zutiefst ungläubigem und erschrockenem Gesicht starrte sie die alte Dame an. Um sie zu beruhigen, erklärte diese ihr mit sanfter Stimme, was geschehen war.
Die Tochter der alten Dame war unter ähnlichen Umständen ums Leben gekommen wie Tamaki Otsuka. Sie hatte den falschen Mann geheiratet, und die alte Dame hatte von Anfang an gewusst, dass die Ehe nicht funktionieren würde. In ihren Augen war der Mann eindeutig pervers. Auch zuvor waren schon Probleme aufgetreten, deren Ursachen vermutlich tief wurzelten. Dennoch hatte niemand die Hochzeit verhindern können. Erwartungsgemäß kam es immer wieder zu heftigen Ausbrüchen häuslicher Gewalt, und allmählich verlor die Tochter der alten Dame jede Selbstachtung und jedes Selbstvertrauen. Völlig in die Enge getrieben, fiel sie in eine tiefe Depression. Die Kraft, sich zu behaupten, war ihr geraubt worden, und wie eine Ameise, die in den Trichter eines Ameisenlöwen gestürzt ist, hatte sie keine Möglichkeit mehr, sich zu befreien. So hatte sie eines Tages eine große Menge Schlaftabletten mit Whisky heruntergespült.
Bei der Untersuchung der Leiche wurden zahllose Spuren von Gewalt entdeckt. Male von heftigen Schlägen und Hieben, kaum verheilte Knochenbrüche, etliche Verbrennungen, wo Zigaretten auf ihr ausgedrückt worden waren. An beiden Handgelenken waren Verletzungen von Fesseln zurückgeblieben. Die Polizei lud den Ehemann vor und verhörte ihn. Er gab die Misshandlungen zu, behauptete aber, sie hätten in gegenseitigem Einverständnis als Teil des Geschlechtsverkehrs stattgefunden. Seine Frau habe ihn sogar dazu aufgefordert und Gefallen daran geäußert.
Am Ende konnte die
Weitere Kostenlose Bücher