1Q84: Buch 1&2
verschwinden«, sagte die alte Dame wie zu sich selbst. Dann sah sie Aomame ins Gesicht. »Wir brauchen möglichst rasch eine Gelegenheit, um ihn aus dem Weg zu räumen. Bevor er noch jemandem etwas antun kann.«
Aomame beobachtete Tsubasa, die ihr gegenübersaß. Ihre Augen blickten ins Leere. Sie starrte auf einen Punkt im Raum. Das kleine Mädchen wirkte auf Aomame wie eine leere, abgeworfene Hülle.
»Aber wir wollen auch nichts überstürzen«, sagte die alte Dame. »Wir müssen äußerste Geduld üben und sehr wachsam sein.«
Die alte Dame wollte die Kleine zu Bett bringen, und Aomame ließ sie bei Tsubasa zurück und verließ allein das Haus. In dem großen Raum im Erdgeschoss saßen vier Frauen ins Gespräch vertieft um den Tisch. Die Szene wirkte fast irreal auf Aomame, als wären die Frauen Teil eines fiktiven Gemäldes, das den Titel »Frauen, die Geheimnisse teilen« hätte tragen können. Auch als Aomame an ihnen vorbeiging, änderte sich nichts an diesem Arrangement.
Vor der Eingangstür bückte sich Aomame und streichelte die Schäferhündin, die glücklich mit dem Schwanz wedelte. Sie fragte sich, warum der Hund, sooft sie ihm begegnete, eine so bedingungslose Freude zeigte. Aomame hatte noch nie in ihrem Leben ein Tier besessen, keinen Hund, keine Katze, keinen Vogel. Nicht einmal eine Topfpflanze hatte sie je ihr Eigen genannt. Plötzlich fiel es ihr wieder ein, und sie schaute zum Himmel, der jedoch von einer gleichmäßigen grauen Wolkenschicht bedeckt war, die die Ankunft der Regenzeit ankündigte. Von den Monden war nichts zu sehen. Es war eine ruhige, windstille Nacht. Obwohl das Mondlicht sanft durch die Wolken schimmerte, konnte sie nicht erkennen, wie viele Monde es waren.
Auf dem Weg zur U-Bahn-Station kreisten Aomames Gedanken um die Absonderlichkeit des Daseins. Wenn wir, wie die alte Dame meint, nicht mehr sind als Transporteure von Genen, so fragte sie sich, warum müssen dann wohl so viele Menschen ein so abseitiges Leben führen? Wäre das Ziel der Weitergabe von DNA nicht ausreichend erfüllt, wenn man um nichts anderes als Lebensunterhalt und Fortpflanzung bemüht dahinleben würde? Ohne sich überflüssigen Gedanken hinzugeben? War es für die Gene ein Vorteil, dass manche Menschen ein so verqueres Leben führten?
Ein Mann, der Vergnügen daran fand, noch nicht geschlechtsreifen Mädchen Gewalt anzutun, ein muskelbepackter schwuler Leibwächter; tiefgläubige Menschen, die lieber freiwillig starben, als sich einer Bluttransfusion zu unterziehen; eine im sechsten Monat schwangere Frau, die sich mit Schlaftabletten vergiftete; eine Frau, die unliebsame Männer tötete, indem sie ihnen eine spitze Nadel in den Nacken stieß. Männer, die Frauen hassten, und Frauen, die Männer hassten. Welchen Vorteil brachte es für die Gene, dass solche Menschen existierten? Dienten sie bloß der Zerstreuung dieser Gene oder doch einem bestimmten anderen Zweck?
Aomame wusste es nicht. Was sie jedoch wusste, war, dass sie mittlerweile keine andere Wahl mehr hatte als dieses Leben. Es gibt keine Möglichkeit, dachte sie, es gegen ein anderes, neues einzutauschen. Es mag seltsam sein, es mag schräg sein, aber es ist mein Leben. Es ist ich.
Wie schön wäre es, wenn die alte Dame und Tsubasa glücklich werden könnten, dachte Aomame, während sie lief. Wenn sie wirklich glücklich werden könnten, würde es ihr nicht einmal etwas ausmachen, sich für sie zu opfern. Sie selbst hatte ohnehin keine nennenswerte Zukunft. Aber wenn sie ehrlich war, konnte sie sich nicht vorstellen, dass die beiden eines Tages ein friedliches, zufriedenes – oder zumindest ganz normales – Leben führen könnten. Wir sind mehr oder weniger alle von der gleichen Art, dachte Aomame. Jede von uns hat im Laufe ihres Lebens zu viel durchgemacht. Die alte Dame hat recht. Wir sind so etwas wie eine Familie. Eine große Familie, die einen endlosen Krieg führt, in der alle beschädigt sind. Unsere Gemeinsamkeit besteht in unseren seelischen Verletzungen.
Während Aomame noch über diese Dinge nachdachte, überkam sie das heftige physische Verlangen nach einem Mann. Kopfschüttelnd fragte sie sich, wieso in aller Welt ihr ausgerechnet jetzt nach einem Mann zumute war. Ob diese Woge des Verlangens von seelischer Anspannung herrührte, ob es sich um ein natürliches Signal handelte, das die in ihr gespeicherten Eizellen aussandten, oder ob es ein Trick ihrer Gene war? Jedenfalls ging das Gefühl ziemlich tief. »Ich muss es
Weitere Kostenlose Bücher