1Q84: Buch 1&2
kann man es auf keinen Fall hinnehmen«, sagte Aomame in ruhigem Ton. »Sie sagen es: Weitere Opfer dürfen wir nicht zulassen.«
Im Inneren der alten Dame schienen sich mehrere widerstreitende Gedanken zu verwirren.
»Wir brauchen genauere und profundere Erkenntnisse über diesen ›Leader‹«, sagte sie. »Nichts darf im Unklaren bleiben. Immerhin geht es um ein Menschenleben.«
»Dieser Mann zeigt sich fast nie in der Öffentlichkeit, nicht wahr?«
»Nein. Und er wird offenbar sehr streng bewacht.«
Aomame kniff die Augen zusammen. Sie dachte an ihren Eispick, der tief in einer Schublade in ihrem Kleiderschrank verborgen lag. An seine tödliche Spitze. »Sieht nach einem schwierigen Fall aus«, sagte sie.
»Es ist ein ganz besonders schwieriger Fall«, sagte die alte Dame. Sie nahm ihre Hände von Tsubasas und strich sich mit den Mittelfingern leicht über die Augenbrauen. Das war ein Zeichen, dass sie keinen Rat wusste – was nicht häufig vorkam.
»Praktisch stelle ich es mir ziemlich schwierig vor, allein nach Yamanashi in die Berge zu fahren, mich in die streng gesicherte Gemeinschaft einzuschleichen, den Leader zu erledigen und mich dann in aller Ruhe davonzumachen. In einem Ninja-Film wäre das kein Problem.«
»Ich denke nicht daran, so etwas von Ihnen zu verlangen. Natürlich nicht«, sagte die alte Dame in ernstem Ton. Dann verzog sie die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln, als falle ihr erst jetzt auf, dass es sich um einen Scherz handelte. »So etwas kommt nicht in Frage.«
»Über noch etwas mache ich mir Gedanken«, sagte Aomame und sah der alten Dame in die Augen. »Die Little People. Wer oder was sind sie? Und was haben sie mit Tsubasa gemacht? Wir brauchen wohl auch noch ein paar Informationen über diese Little People.«
Die Finger der alten Dame ruhten noch immer auf ihren Augenbrauen. »Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Tsubasa spricht kaum, doch die Little People hat sie wie gesagt mehrmals erwähnt. Sie müssen irgendeine herausragende Bedeutung haben. Aber sie sagt mir nicht, wer oder was diese Little People sind. Sobald ich Tsubasa auf sie anspreche, schweigt sie hartnäckig. Geben Sie mir noch etwas Zeit. Ich versuche mehr herauszufinden.«
»Können Sie auch noch ausführlichere Informationen über die Vorreiter beschaffen?«
Die alte Dame lächelte ruhig. »Es gibt nichts auf dieser Welt, das man mit Geld nicht kaufen kann. Und ich bin – besonders in dieser Angelegenheit – bereit, eine Menge Geld hinzulegen. Es kann eine Weile dauern, aber ich werde die nötigen Auskünfte ganz sicher bekommen.«
O doch, dachte Aomame, es gibt Dinge, die man mit allem Geld der Welt nicht kaufen kann. Zum Beispiel den Mond .
Sie wechselte das Thema. »Wollen sie Tsubasa wirklich zu sich nehmen und großziehen?«
»Natürlich. Ich habe vor, sie offiziell zu adoptieren.«
»Es ist Ihnen bestimmt bewusst, aber die gesetzlichen Formalitäten sind sicher sehr kompliziert. Vor allem unter diesen Umständen.«
»Darauf bin ich selbstverständlich vorbereitet«, sagte die alte Dame. »Ich werde mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln arbeiten und alles tun, was möglich ist. Ich werde Tsubasa niemand anderem überlassen.«
In die Stimme der alten Dame mischte sich ein scharfer Ton. Noch nie hatte sie Aomame gegenüber so viel von ihren Gefühlen preisgegeben. Das beunruhigte Aomame ein wenig. Anscheinend erkannte die alte Dame Aomames Unbehagen an ihrem Gesichtsausdruck.
Sie senkte ihre Stimme und sprach in vertraulichem Ton. »Ich habe es noch niemals jemandem erzählt. Es immer für mich behalten, weil es mir so schwerfiel, darüber zu sprechen. Aber zu Ihnen will ich aufrichtig sein. Meine Tochter war schwanger, als sie sich das Leben genommen hat. Im sechsten Monat. Wahrscheinlich wollte sie den kleinen Jungen nicht zur Welt bringen. Also hat sie das Kind mit sich in den Tod genommen. Wäre er geboren worden, hätte er jetzt Tsubasas Alter. Ich habe damals nicht nur einen, sondern zwei Menschen verloren.«
»Das tut mir sehr leid«, sagte Aomame.
»Haben Sie keine Angst. Meine persönlichen Erfahrungen beeinträchtigen mein Urteilsvermögen keineswegs. Ich werde Sie niemals unnötig in Gefahr bringen. Auch Sie sind wie eine geliebte Tochter für mich. Wir sind ja bereits eine Familie.«
Aomame nickte schweigend.
»Es gibt stärkere Bindungen als Blutsbande«, sagte die alte Dame ruhig.
Aomame nickte noch einmal.
»Dieser Mann muss unter allen Umständen
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