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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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der Feinde fallen. Ich verlasse mit unserer Hoheit diese Welt. Ihr, deren Herzen ihm treu ergeben sind, eilt, mir zu folgen«, rief sie und lief an den Rand des Schiffes.
    Der Kaiser war acht Jahre alt,
    schien reifer doch als seine Jahre.
    Strahlend schön sein Antlitz,
    sein langes schwarzes Haar strömte ihm den Rücken hinab.
    Verwirrt fragte der junge Kaiser:
    »Wohin bringt Ihr mich, Großmutter?«
    Mit Mühe die Tränen zurückhaltend, wandte sie sich ihm zu und sprach:
    »Ihr müsst es verstehen.
    Kaiser wurdet Ihr, denn Ihr habt in Eurem früheren Leben
    die Zehn Gebote der Güte befolgt,
    doch nun reißt ein übles Karma Euch mit sich,
    und Euer Glück ist bereits aufgebraucht.
    Wendet Euch gen Osten
    und nehmt Abschied vom Großen Schrein in Ise,
    sodann wendet Euch gen Westen und verneigt Euch
    und sprecht den Namen von Amida-Buddha,
    sodass er Euch in sein Reines Land im Westen geleite.
    Diese Erde ist voll von Leid,
    ich bringe Euch in ein glückliches Land, das man das Paradies nennt«,
    so sprach sie weinend.
    Der junge Kaiser trug das taubenblaue Gewand und die Frisur eines Knaben.
    Die Augen voll Tränen legte er die schönen kleinen Hände zusammen,
    kniete sich zuerst nach Osten
    und nahm Abschied vom Großen Schrein in Ise.
    Sodann wandte er sich nach Westen
    und rief den Namen Amidas an.
    Die Nonne zweiten Ranges hob ihn auf.
    »Auch unter den Wellen liegt eine Hauptstadt«,
    tröstete sie ihn und sprang mit ihm in die Tiefe.
    Als Tengo Fukaeri mit geschlossenen Augen zuhörte, hatte er das Gefühl, dem Vortrag eines blinden Balladensängers zu lauschen. Es wurde ihm wieder bewusst, dass es sich bei der Geschichte von den Heike um ein ursprünglich mündlich überliefertes Epos handelte. Fukaeri hatte eigentlich eine sehr monotone Art zu sprechen, ohne wahrnehmbaren Akzent oder Intonation, aber als sie zu rezitieren begann, entwickelte ihre Stimme eine erstaunliche Kraft und Klangfülle. Es war beinahe, als habe etwas von ihr Besitz ergriffen und beseele sie. Sie erweckte die Ereignisse der großen Seeschlacht, die 1185 in der Straße von Kanmon stattgefunden hatte, zu neuem Leben. Die Niederlage der Taira – oder Heishi, wie sie auch genannt wurden – stand bereits fest, und Tokiko, die Gemahlin des Clanoberhaupts Kiyomori, sprang mit dem kleinen Kaiser Antoku ins Meer. Die Hofdamen, die ebenfalls nicht den Kriegern aus dem Osten des Landes in die Hände fallen wollten, folgten ihr. Tomomori, die Nonne im zweiten Rang, bezwang ihren Schmerz und ermutigte die adligen Damen mit neckenden Worten zum Freitod. Falls sie den Tod scheuten, würden sie noch im Leben einen Vorgeschmack auf die Hölle bekommen. Besser sei es, hier auf der Stelle ihr Leben zu beenden.
    »Soll ich weitermachen«, fragte Fukaeri.
    »Nein, das genügt. Danke schön«, sagte Tengo, noch immer fast sprachlos vor Staunen.
    Kein Wunder, dass den Journalisten die Worte gefehlt hatten. »Aber wie konntest du dir so etwas in voller Länge merken?«
    »Ich habe die Kassetten immer wieder gehört.«
    »Ein normaler Mensch könnte das nicht alles auswendig, auch wenn er es mehrmals gehört hätte«, sagte Tengo. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Hatte diese junge Frau zum Ausgleich für ihre Legasthenie vielleicht eine überdurchschnittliche Fähigkeit entwickelt, sich zu merken, was sie hörte? Wie Kinder mit Savant-Syndrom gewaltige Mengen visueller Informationen in kürzester Zeit in ihrem Gedächtnis zu speichern vermochten?
    »Ich möchte ein Buch lesen«, sagte Fukaeri.
    »Was würde dir denn gefallen?«
    »Haben Sie das Buch, von dem der Sensei neulich gesprochen hat«, fragte Fukaeri. »Das, in dem der Große Bruder vorkommt.«
    » 1984 ? Nein, das habe ich nicht hier.«
    »Wie geht die Geschichte?«
    Tengo versuchte sich an die Handlung zu erinnern. »Ich habe es vor langer Zeit mal in der Schulbibliothek gelesen, aber ich bekomme es nicht mehr genau zusammen. Jedenfalls ist es schon im Jahre 1949 erschienen, als 1984 noch in ferner Zukunft lag.«
    »Unser Jahr.«
    »Ja, genau, auch die Zukunft wird irgendwann Wirklichkeit. Und dann ist sie auch schon gleich wieder Vergangenheit. George Orwell hat in seinem Roman die zukünftige Gesellschaft als totalitär und düster geschildert. Sie wird von einem Dikator, dem Großen Bruder, beherrscht. Jegliche Informationen werden kontrolliert, sogar die Geschichte wird unentwegt umgeschrieben. Der Held arbeitet in einem Ministerium, und seine Aufgabe in dieser Behörde besteht darin,

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