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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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erreichen. Jedenfalls kann man es dann nicht mehr aushalten, ohne zu wissen, wie die Landschaft dort aussieht und was dort passiert. So was ist quasi wie Masern, es kommt und geht. Eine Art Neugierde im reinsten Sinne. Eine Eingebung, für die es keine Erklärung gibt. Allerdings war damals eine Reise von Moskau nach Sachalin eine kaum vorstellbare Tortur, daher war Neugier für Tschechow sicher nicht der einzige Grund.«
    »Welchen gab es noch?«
    »Tschechow war nicht nur Schriftsteller, er war auch Arzt. Vielleicht wollte er als Wissenschaftler die entlegenen Landesteile des riesigen russischen Reiches mit eigenen Augen erforschen. Außerdem bereitete es ihm wohl Unbehagen, ein beliebter Autor in Hauptstadtkreisen zu sein. Die Moskauer Literaten langweilten ihn, und er konnte sich nicht an die affektierten Literaturzirkel gewöhnen. Das Gift und die Bosheit der Kritiker erregten nichts als Widerwillen in ihm. So diente ihm die Reise nach Sachalin unter Umständen als eine Art Pilgerschaft, um sich von diesem literarischen Unrat reinzuwaschen. Die Insel wirkte in vieler Hinsicht überwältigend auf ihn. Vielleicht hat Tschechow seine Reise deshalb nicht belletristisch verarbeitet. Sie war keine oberflächliche Angelegenheit, die ihm einfach Stoff für einen Roman lieferte. Vielleicht hatte Sachalin ihn sozusagen infiziert und war so zu einem Teil seiner selbst geworden. Oder das, was er dort fand, war genau das, was er gesucht hatte.«
    »Ist das Buch interessant«, fragte Fukaeri.
    »Ich fand es interessant. Es ist sehr sachlich, Tschechow listet eine Menge Zahlen und Statistiken darin auf, und es hat, wie gesagt, so gut wie keinen literarischen Charakter. Tschechows naturwissenschaftliches Interesse überwiegt. Außerdem kann man auch so etwas wie eine aufrechte Entschlossenheit darin erkennen. Die in die nüchternen Berichte eingefügten Beobachtungen der Menschen, denen er hier und da begegnete, und seine Landschaftsbeschreibungen sind sehr eindrucksvoll. Als eine Dokumentation, die fast ausschließlich Fakten aneinanderreiht, ist das Buch auf alle Fälle nicht schlecht. Einige Stellen sind sogar großartig. Zum Beispiel der Teil über die Giljaken.«
    »Giljaken«, sagte Fukaeri.
    »Die Giljaken sind die Ureinwohner von Sachalin, die lange bevor die Russen die Insel kolonisierten dort lebten. Ursprünglich bewohnten sie den Süden, scheinen aber von Ainu, die aus Hokkaido kamen, verdrängt worden zu sein und siedelten sich dann in der Mitte der Insel an. Die Ainu ihrerseits waren von den Japanern aus Hokkaido verdrängt worden. Tschechow beschäftigte sich sehr eingehend mit der Alltagskultur der Giljaken, die durch die Russisierung von Sachalin rapide verlorenging, und bemühte sich, zumindest einige ihrer Aspekte schriftlich festzuhalten.«
    Tengo schlug den Abschnitt über die Giljaken auf und las. Damit seine Zuhörerin ihm leichter folgen konnte, änderte und kürzte er einige Sätze entsprechend.
    »Die Giljaken sind von kräftiger untersetzter Gestalt; sie sind von mittlerem, sogar kleinem Wuchs. Ein höherer Wuchs hätte sie in der Taiga nur behindert. Ihre Knochen sind stark und zeichnen sich durch kräftige entwickelte Fortsätze, Kämme und Knoten aus, an denen die Muskeln befestigt sind. All das lässt auf feste, starke Muskeln und einen ständigen angestrengten Kampf mit der Natur schließen. Ihr Körper ist mager, sehnig ohne Fettpolster; man sieht keine runden und dicken Giljaken. Offenbar wird das ganze Fett für die Erzeugung von Wärme verbraucht, um die Verluste zu ersetzen, die der Körper der Sachaliner durch die niedrigen Temperaturen und die übermäßige Luftfeuchtigkeit erleidet. In Anbetracht dessen kann man verstehen, warum die Giljaken so viel Fett in ihrer Nahrung brauchen. Sie essen fettes Robbenfleisch, Lachs, Stör- und Walfett und Fleisch mit Blut, das alles in großen Mengen, in rohem, getrocknetem und oft in gefrorenem Zustand, und weil sie grobe Kost essen, sind bei ihnen die Stellen, wo die Kaumuskeln befestigt sind, außerordentlich entwickelt und alle Zähne stark abgenutzt. Die Kost ist ausschließlich tierisch, und selten, nur wenn zu Hause gegessen wird oder bei einem kleinen Gelage, werden mandschurischer Knoblauch und Beeren hinzugefügt. Nach dem Zeugnis von Nevelskoj halten die Giljaken den Ackerbau für eine große Sünde; wer den Boden umzugraben beginnt und etwas anpflanzt, der muss unbedingt sterben. Aber das Brot, mit dem sie von den Russen bekannt gemacht

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