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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Texte umzuschreiben. Sobald eine neue Geschichte geschaffen ist, wird die alte völlig gelöscht. Außerdem wird die Sprache verändert, und auch die Bedeutung bestehender Worte wird geändert. Und weil die Geschichte ständig umgeschrieben wird, weiß schließlich niemand mehr, was wirklich geschehen ist. Auch Freund und Feind sind nicht mehr zu unterscheiden. Das ist ungefähr die Handlung.«
    »Geschichte umschreiben.«
    »Menschen ihrer wahren Geschichte zu berauben ist das Gleiche, wie ihnen einen Teil ihrer Individualität zu rauben. Das ist ein Verbrechen.«
    Fukaeri dachte eine Weile nach.
    »Unser Gedächtnis besteht aus persönlichen und kollektiven Erinnerungen. Beide sind eng miteinander verflochten. Und Geschichte ist so etwas wie ein Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Wird sie uns gestohlen oder umgeschrieben, können wir die Persönlichkeit, auf die wir Anspruch haben, nicht mehr bewahren.«
    »Aber Sie schreiben doch auch um.«
    Tengo lachte und nahm einen Schluck Wein. »Ich habe nur deine Geschichte ein bisschen bearbeitet. Historie umzuschreiben ist eine ganz andere Sache.«
    »Aber das Buch über den Großen Bruder haben Sie nicht hier«, fragte Fukaeri.
    »Leider nein. So kann ich dir nicht daraus vorlesen.«
    »Etwas anderes geht auch.«
    Tengo ging zum Regal und las die Buchrücken. Die meisten der Bücher hatte er gelesen, aber er besaß auch nicht besonders viele. Er stellte seine Wohnung nicht gern voll. Deshalb brachte er ausgelesene Bücher, von einigen besonderen Exemplaren abgesehen, stets ins Antiquariat. Er bemühte sich, nur welche zu kaufen, die er gleich lesen konnte. Wichtige Bücher las er sorgfältig, sodass sie sich ihm einprägten. Was er sonst noch brauchte, lieh er sich aus der Stadtteilbibliothek.
    Tengo brauchte eine Weile, bis er sich entschieden hatte. Er war es nicht gewöhnt, laut vorzulesen, und konnte deshalb schlecht sagen, welche Art von Buch sich dafür eignete. Nach langem Zögern nahm er Die Insel Sachalin von Anton Tschechow aus dem Regal. Er hatte es in der vergangenen Woche zu Ende gelesen und die interessantesten Stellen mit Lesezeichen versehen. Das würde ihm helfen, rasch etwas Passendes aufzuschlagen.
    Ehe er vorzulesen begann, gab er Fukaeri einige kurze Erklärungen. Tschechow war, als er 1890 nach Sachalin aufbrach, erst dreißig Jahre alt gewesen. Niemand kannte den wahren Grund für den Entschluss des Stadtmenschen Tschechow – er gehörte zur Generation nach Tolstoi und Dostojewski –, der als hochgeschätzter aufstrebender junger Autor in der Hauptstadt Moskau ein angenehmes Leben führte, ganz allein zur für damalige Verhältnisse am Ende der Welt gelegenen Insel Sachalin aufzubrechen und sich so lange dort aufzuhalten. Sachalin war vor allem als Strafkolonie erschlossen worden und galt jedem normalen Menschen als Inbegriff von Elend und Unglück. Da zu jener Zeit die transsibirische Eisenbahn noch nicht existierte, musste Tschechow die gesamte Strecke von 4000 Kilometern durch eisiges Gebiet vornehmlich mit der Pferdekutsche zurücklegen, eine Strapaze, die seine ohnehin nicht gerade robuste Konstitution grausam in Mitleidenschaft zog. Das Buch Die Insel Sachalin , das er über seine achtmonatige Reise in den entlegenen Osten schrieb, verwunderte die meisten seiner Leser. Man merkt ihm keine literarischen Ambitionen an, es gleicht eher einer Reportage oder einer topographischen Schilderung. Es wurde getuschelt und spekuliert, warum Tschechow in einer Zeit, die für ihn als Autor so wichtig war, »etwas so Sinnloses« unternommen habe. Einige Kritiker warfen ihm »Großmannssucht« vor. Oder vertraten die Ansicht, er könne nicht mehr schreiben und habe nun »Material« gesucht. Tengo zeigte Fukaeri die zu dem Buch gehörende Landkarte und erklärte ihr die Lage von Sachalin.
    »Warum ist Tschechow nach Sachalin gefahren«, fragte Fukaeri.
    »Du meinst, was ich darüber denke?«
    »Ja. Haben Sie das Buch gelesen.«
    »Ja.«
    »Was dachten Sie.«
    »Dass Tschechow den wahren Grund für seine Reise vielleicht selbst nicht kannte«, antwortete Tengo. »Oder er wollte einfach mal hin. Wurde von dem unwiderstehlichen Drang ergriffen, dorthin zu fahren, als er sich die Form der Insel Sachalin auf der Landkarte anschaute oder so. Ich habe so etwas selbst schon erlebt. Bei manchen Orten bekommt man das Gefühl, ›Da muss ich unbedingt hin‹, wenn man sie auf der Karte sieht. Und aus irgendeinem Grund sind sie meistens weit weg und schwer zu

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