1Q84: Buch 1&2
abgesetzt. In der Folge weigerten sich drei der Extremisten, aufzugeben, und wurden getötet, zwei wurden schwer verletzt (der eine erlag drei Tage später im Krankenhaus seinen Verletzungen; was aus dem anderen wurde, war dem Artikel nicht zu entnehmen), vier unverletzt oder nur leicht verletzt verhaftet. Da Polizei und Soldaten äußerst effektive kugelsichere Westen trugen, gab es unter ihnen keine weiteren Opfer zu beklagen. Nur ein Beamter stürzte während der Verfolgungsjagd von einem Felsen und brach sich ein Bein. Lediglich einer der Extremisten entkam. Er blieb trotz ausgedehnter Suche verschwunden.
Als der erste Schock über die Schießerei sich gelegt hatte, begannen die Zeitungen ausführlich über die Hintergründe der militanten Akebono-Gruppe zu berichten. Die Anhänger waren sozusagen illegitime Nachfahren der Studentenrevolten um 1970. Mehr als die Hälfte der Mitglieder waren an den Vorfällen im Yasuda-Auditorium der Universität Tokio oder der Besetzung der Japan-Universität beteiligt gewesen. Sie alle waren damals, nachdem ihre »Festung« durch das Überfallkommando gestürmt worden und gefallen war, von der Universität verwiesen worden. Ein Teil der Studenten und des Lehrkörpers meinte mit den politischen Aktivitäten in der Stadt, bei denen der Universitätscampus die zentrale Rolle spielte, in eine Sackgasse geraten zu sein. Sie schlossen sich zu einer Gruppe zusammen und gründeten eine Landkommune in Yamanashi. Anfangs waren sie der »Takashima-Schule« beigetreten, einer Kommune, die ebenfalls Landwirtschaft betrieb. Offenbar unzufrieden mit diesem Leben, organisierten sie sich neu und machten sich unabhängig. Sie richteten ein verlassenes Dorf in den Bergen wieder her und widmeten sich dort der Landwirtschaft. Zu Anfang mussten sie ziemlich schuften, aber bald erlebten organisch angebaute Lebensmittel in den Städten einen stillen Boom, und die Gemüselieferungen der Kommune wurden zu einem guten Geschäft. Im Zuge dieser Entwicklung konnten sie ihre Felder ständig vergrößern. Die Mitglieder waren ernsthafte, arbeitsame Menschen, die von ihren Anführern hervorragend organisiert wurden. Der Name, den die Kommune sich gegeben hatte, lautete »Die Vorreiter«.
Aomame verzog das Gesicht und schluckte schwer. Dabei entstand ein lautes Geräusch in ihrer Kehle. Sie klopfte mit dem Kugelschreiber, den sie in der Hand hielt, auf den Tisch und las weiter.
Während sich auf der einen Seite die Verwaltung stabilisierte, kündigte sich auf der anderen allmählich eine Spaltung an. Die Gruppe zerfiel in zwei Fraktionen: in die extremen »Militanten«, die weiter eine revolutionäre Guerilla in Übereinstimmung mit marxistischem Gedankengut anstrebten, und eine vergleichsweise friedliche Kommune, die faktisch akzeptiert hatte, dass ein gewaltsamer Umsturz für die gegenwärtige japanische Gesellschaft keine realistische Option war. Sie lehnte materialistisches Denken ab und trachtete nach einem natur- und erdverbundenen Leben. Im Jahre 1976 schloss die zahlenmäßig überlegene friedliche Kommune die Radikalen aus der Gemeinschaft der Vorreiter aus.
Allerdings wurden die Militanten nicht mit Gewalt ausgestoßen. Der Presse zufolge hatten die Friedlichen ihnen neues Land und eine gewisse Menge an Kapital angeboten, sozusagen eine Art Abfindung. Die Radikalen nahmen an und gründeten auf dem Grund und Boden, den sie als Entschädigung erhalten hatten, eine eigene Kommune, die Gruppe Akebono, die eines Tages offenbar begonnen hatte, sich schwer zu bewaffnen. Aufklärung über den Inhalt der Vereinbarungen und die Höhe der Abfindung erhoffte man sich durch eine soeben stattfindende Untersuchung.
Weder die Behörden noch die Presse schienen Kenntnis davon zu haben, wann die Vorreiter die Wende zur religiösen Vereinigung vollzogen hatten und was der Anlass dafür gewesen war. Doch etwa um die Zeit, als die Landkommune sich so mühelos der Militanten entledigt hatte, schien ihre religiöse Tendenz sich vertieft zu haben, und im Jahr 1979 gelang es den Vorreitern, als religiöse Gemeinschaft anerkannt zu werden. Nach und nach kauften sie immer mehr Land in der Umgebung auf und vergrößerten so ihren Grundbesitz und ihre Anlagen. Schließlich zogen sie einen hohen Zaun um ihr Gelände, das Außenstehende fortan nicht mehr betreten durften. Besucher würden die asketischen Übungen stören, lautete die Begründung. Woher das Kapital für all das kam und warum die offizielle Anerkennung als
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