1Q84: Buch 1&2
klare Augen. Sie drückten sich höflich aus und hatten gute Manieren. Im Allgemeinen wollten sie nicht über ihre Vergangenheit sprechen, aber die meisten schienen tatsächlich eine höhere Bildung genossen zu haben. Das Mittagessen, zu dem man die Journalisten eingeladen hatte, war zwar einfach, an sich aber sehr schmackhaft gewesen, da es aus frisch geernteten Zutaten von den Feldern der Gruppe zubereitet worden war.
So erklärten die meisten Medien die revolutionäre Splittergruppe Akebono zu einem »Auswuchs«, den die in erster Linie geistigen Werten zugewandten Vorreiter hatten abstoßen müssen. Im Japan der achtziger Jahre galten revolutionäre marxistische Ideale bereits als altbacken und verstaubt. Die jungen Leute, die noch um 1970 die Politik radikal verändern wollten, waren nun in allen möglichen Unternehmen beschäftigt und kämpften auf den Schlachtfeldern der Marktwirtschaft an vorderster Front. Oder sie hatten sich aus dem Getümmel und dem Konkurrenzkampf der real existierenden Gesellschaft zurückgezogen und trachteten irgendwo nach individueller Selbstverwirklichung. Jedenfalls hatte sich der Zeitgeist völlig geändert, und die Hochsaison des politischen Engagements lag in ferner Vergangenheit. Der Fall Akebono, so blutig und tragisch er auch endete, war langfristig nicht mehr als eine unerwartete und unzeitgemäße Episode, in der ein Gespenst aus der Vergangenheit sich noch einmal erhob. Bedeutung kam ihr nur als letztem Akt einer Epoche zu. Akebono hatte keine Zukunft. So der allgemeine Tenor der Presse. Die Vorreiter hingegen pries man als vielversprechende Alternative für eine neue Zeit.
Aomame legte den Kugelschreiber ab und atmete tief durch. Vor sich sah sie Tsubasas ausdruckslose Augen, denen jede Tiefe fehlte. Sie hatten sie nur blicklos angeschaut. In ihnen hatte etwas Entscheidendes gefehlt.
Das ist alles nicht so einfach, dachte Aomame. In Wahrheit waren die Vorreiter keine solchen Saubermänner, wie es in den Zeitungen stand. Sie hatten eine verborgene dunkle Seite. Der alten Dame zufolge vergewaltigte der Mann, der sich »Leader« nannte, kleine Mädchen, die zehn oder noch nicht mal zehn Jahre alt waren, und deklarierte das als religiösen Akt. Davon wussten die Presseleute nichts. Sie hatten sich nur einen halben Tag auf dem Gelände aufgehalten. Man hatte sie durch gepflegte Anlagen geführt, zu einem Mittagessen aus frischen Zutaten eingeladen, mit einem schönen Vortrag über geistige Bewusstwerdung bedacht, und anschließend waren sie hochbefriedigt nach Hause gefahren. Was sich innerhalb der Sekte tatsächlich abspielte, war von ihrem Blick nicht einmal gestreift worden.
Aomame verließ die Bibliothek, ging in ein Café und bestellte eine Tasse Kaffee. Von dem Telefon dort rief sie Ayumis Dienststelle an. Es war eine Nummer, unter der sie Ayumi, wie diese gesagt hatte, immer anrufen könne. Einer ihrer Kollegen hob ab und sagte, dass sie auf Streife sei, aber in ungefähr zwei Stunden aufs Revier zurückkommen werde. Ohne ihren Namen zu nennen, sagte Aomame, sie werde sich noch einmal melden.
Sie ging in ihre Wohnung, und zwei Stunden später wählte sie die Nummer noch einmal. Ayumi war gleich am Apparat.
»Hallo, Aomame. Wie geht’s dir?«
»Gut, gut. Und dir?«
»Auch gut. Abgesehen vom Männermangel. Und du?«
»Gleiche Situation«, sagte Aomame.
»Also wirklich«, sagte Ayumi. »Mit dieser Welt stimmt doch was nicht. Zwei hinreißende junge Frauen wie wir wissen nicht, wohin mit ihrem gewaltigen gesunden sexuellen Appetit. Dagegen müssen wir was tun.«
»Du hast ja recht – aber trotzdem brauchst du das nicht so herumzuschreien. Du bist doch im Dienst. Sind da keine Leute in der Nähe?«
»Geht schon in Ordnung. Ich kann reden«, erwiderte Ayumi.
»Ich hätte da eine Bitte an dich. Aber nur wenn es dir nichts ausmacht. Mir fällt sonst niemand ein, den ich fragen könnte.«
»Klar. Ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann, aber worum geht’s denn?«
»Kennst du diese Sekte, die Vorreiter nennen sie sich? Sie haben ihr Hauptquartier in Yamanashi.«
»Die Vorreiter, hm.« Ayumi dachte nach. Etwa zehn Sekunden später fiel es ihr ein. »Ah, ich glaube, ich erinnere mich. Das ist doch diese religiöse Kommune, zu der früher die militanten Akebono gehört haben. Die mit der Schießerei in Yamanashi. Drei Polizisten von der Präfekturpolizei wurden dabei getötet. Schlimm. Aber die Vorreiter hatten mit der Sache nichts zu tun. Nach dem Vorfall haben
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