1Q84: Buch 1&2
hatte. Die Journalisten mussten nicht, wie häufig in solchen Fällen, einem vorgeschriebenen Rundgang folgen, sondern durften unbegleitet und frei auf dem Gelände herumlaufen, mit jedem sprechen und darüber schreiben. Allerdings wurde, um die Privatsphäre der Mitglieder zu schützen, eine Vereinbarung getroffen, nach der die Medien nur von der Gruppe genehmigtes Foto- und Filmmaterial verwenden durften. In ihrer »Versammlungshalle« beantworteten einige leitende Mitglieder in typisch schlichter Kleidung die Fragen der Reporter und erläuterten die Entstehung ihres Glaubens, seine Lehre und die Führungsprinzipien der Gemeinschaft. Ihre Sprache war höflich und offen, ohne den geringsten Anflug von Propaganda, wie sie religiöse Gruppen oft verwenden. Die Männer wirkten nicht wie Oberhäupter einer religiösen Vereinigung, sondern eher wie leitende, auf Präsentationen spezialisierte Angestellte einer Werbeagentur. Sie waren nur anders gekleidet.
Wir haben keine eindeutige Lehre, erklärten sie. Wir brauchen keine verschlüsselten Handbücher. Das, worum es uns hier geht, ist die Erforschung des ursprünglichen Buddhismus und die Ausübung seiner Lehren. Unser Ziel ist es, durch konkrete Praxis ein religiöses Erwachen zu erreichen, das eher frei fließend als schriftgetreu vor sich geht. Man könnte sagen, dass das individuelle spontane Erwachen Einzelner kollektiv in unsere Lehre mündet und sie erschafft. Bei uns steht nicht die Lehre am Anfang, der die Erleuchtung folgt, sondern die Lehre, die unsere Regeln bestimmt, ergibt sich auf natürliche und ursprüngliche Weise erst aus der individuellen Bewusstwerdung. Das ist unser Grundprinzip. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unsere Entwicklung sehr stark von jener der etablierten Religionen.
Was die finanzielle Seite betrifft, sind wir, wie die meisten religiösen Gemeinschaften, teilweise abhängig von den freiwilligen Spenden unserer Mitglieder. Letztlich haben wir uns jedoch das Ziel gesetzt, ein einfaches, autarkes Leben aufzubauen, in dessen Mittelpunkt die Landwirtschaft steht, ohne uns auf Spenden zu stützen. Wir begnügen uns bewusst mit dem, was wir haben. Körperliche Reinigung und geistige Schulung verhelfen uns zu seelischem Frieden. Immer mehr Menschen, die den Materialismus als hohl erkannt haben und nach anderen, profunderen Leitlinien suchen, klopfen ans Tor unserer Gemeinschaft. Nicht wenige von ihnen verfügen über eine höhere Bildung, sind Spezialisten in ihrem Berufsfeld und genießen gesellschaftliche Anerkennung. Von den sogenannten Neuen Religionen grenzen wir uns ab. Wir sind keine Fast-Food-Sekte, die auf die weltlichen Sorgen der Menschen eingeht und auf einem Helfermodell basiert. Unsere Pläne gehen nicht in diese Richtung. Natürlich ist die Unterstützung von Schwachen eine wichtige Angelegenheit, aber unsere Einrichtung sollte man sich eher als eine religiöse »weiterführende Universität« vorstellen, die Menschen mit hohem Bewusstseinsstand, die sich selbst helfen wollen, einen geeigneten Platz und angemessene Unterstützung bietet.
Zu einem gewissen Zeitpunkt haben sich zwischen den Mitgliedern von Akebono und uns Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich unserer Verwaltungsprinzipien ergeben. Eine Konfrontation war unvermeidlich. Doch am Schluss unserer Auseinandersetzung gelangten wir zu einer friedlichen Übereinkunft. Unsere Wege trennten sich, und jeder ging seinen eigenen. Sie verfolgten weiter puristisch und kompromisslos ihre Ideale, wie es ihre Art war; dennoch ist die Katastrophe, zur der es schließlich gekommen ist, nur als tragisch zu bezeichnen. Die Hauptursache ist wohl darin zu sehen, dass sie zu dogmatisch wurden und den Kontakt zur realen Gesellschaft verloren. Tief betroffen haben wir dadurch erkannt, dass auch wir uns kritischer beurteilen müssen und zugleich weiterhin nach außen hin offen sein müssen. Probleme lassen sich nie mit Gewalt lösen. Wir sind keine Gruppe, die anderen ihre Religion aufzwingt. Wir bitten Sie, uns das zu glauben. Wir werben weder Mitglieder, noch greifen wir andere Religionen an. Was wir tun, ist, Menschen auf der Suche nach spiritueller Bewusstwerdung eine angemessene, funktionierende Gemeinschaft zu bieten.
Die Presseleute traten mit einem insgesamt positiven Eindruck den Heimweg an. Ausnahmslos alle Mitglieder der Vorreiter – Männer wie Frauen – waren schlank, verhältnismäßig jung (vereinzelt waren auch ältere Personen zu sehen gewesen) und hatten schöne
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