1Q84: Buch 1&2
ihr peitschend ins Gesicht. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Und der nächste Windstoß trocknete sie.
Aomame überlegte, wann all das gewesen war. Aber die Zeit hatte sich in ihrem Gedächtnis verirrt und glich nur einem Gewirr aus losen Fäden. Ihre Achse war verlorengegangen, und vorher, nachher, links oder rechts waren durcheinandergeraten. Die Reihenfolge der Schubladen war vertauscht worden. Sie konnte sich nicht mehr an Dinge erinnern, an die sie sich eigentlich hätte erinnern sollen. Sie befand sich im April des Jahres 1984. Geboren war sie – ja, genau – 1954. So weit konnte sie sich erinnern. Aber auch solche fest eingeprägten Daten verloren in Aomames Bewusstsein rapide an Substanz. Sie sah vor sich, wie der starke Wind weiße Karten mit aufgedruckten Jahreszahlen aufwirbelte und in alle Himmelsrichtungen verstreute. Rennend versuchte sie wenigstens eine von den vielen zu erhaschen. Aber der Wind war zu stark. Und die Zahl der Karten zu groß. 1954, 1984, 1645, 1881, 2006, 771, 2041 … Eine Jahreszahl nach der anderen wurde davongeweht. Ihre systematische Reihenfolge ging verloren, Wissen wurde gelöscht, und die Treppe der Ideen brach unter ihren Füßen ein.
Aomame und Tamaki lagen im selben Bett. Beide waren siebzehn und genossen die ihnen gewährte Freiheit in vollen Zügen. Für beide war es die erste Reise allein mit einer Freundin. Das versetzte sie in Aufregung. Sie stiegen ins heiße Bad und teilten sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank. Dann löschten sie das Licht und sprangen ins Bett. Anfangs tobten sie nur herum und berührten einander halb im Scherz. Doch irgendwann streckte Tamaki die Hände aus und streichelte sacht Aomames Brustwarzen durch das ziemlich dünne T-Shirt, das sie anstelle eines Schlafanzugs trug. Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch Aomames Körper. Kurz darauf zogen die beiden T-Shirts und Unterwäsche aus. Sie waren nun nackt. Es war eine Sommernacht. Wo waren sie damals nur hingefahren? Aomame konnte sich nicht erinnern. Egal, irgendwohin eben. Keine von beiden sagte ein Wort, während sie gegenseitig ihre Körper erkundeten. Schauen, berühren, streicheln, lecken. Halb im Spaß, halb im Ernst. Tamaki war klein und zugegebenermaßen ein wenig rundlich. Ihre Brüste waren üppig. Aomame war eher muskulös, groß und schlank mit kleinen Brüsten. Tamaki redete dauernd davon, eine Diät machen zu müssen. Aber Aomame fand sie hübsch, wie sie war.
Tamaki hatte zarte, feinporige Haut. Ihre Brustspitzen wölbten sich zu einer wunderschönen Ellipse. Sie erinnerten an Oliven. Sie hatte seidiges, feines Schamhaar, weich wie Weidenkätzchen. Aomames Schamhaar war borstig und struppig. Die beiden lachten über diese Unterschiede. Sie betasteten die winzigsten Stellen und tauschten sich darüber aus, wie empfindlich diese waren. Bei einigen stimmte die Empfindsamkeit überein, bei anderen nicht. Mit ausgestrecktem Finger rieben sie einander die Klitoris. Beide hatten Erfahrung im Masturbieren. Eine Menge Erfahrung. Doch dies fühlte sich ganz anders an, als sich selbst zu berühren, fanden sie. Sacht strich der Wind über die grünen böhmischen Wiesen.
Wieder blieb Aomame stehen und schüttelte den Kopf. Sie holte tief Luft und umklammerte das Geländer noch fester. Sie musste aufhören, an diese Dinge zu denken. Und sich auf ihren Abstieg konzentrieren. Wahrscheinlich hatte sie inzwischen über die Hälfte geschafft. Doch warum herrschte nur dieser schreckliche Lärm? Und warum war der Wind so stark? Fast als würde er sie angreifen oder bestrafen.
Und was sollte sie sagen, falls unten jemand stand und fragte, was sie dort zu suchen habe und wer sie sei? »Auf der Autobahn ist ein Stau, und ich habe die Treppe genommen, weil ich einen furchtbar dringenden Termin einhalten muss.« Würde das genügen? Sie könnte Unannehmlichkeiten bekommen. Und das wollte Aomame um jeden Preis vermeiden. Vor allem heute.
Als sie unten ankam, war glücklicherweise niemand da, der sie hätte zurechtweisen können. Zuerst nahm sie ihre Schuhe aus der Tasche und zog sie an. Am unteren Ende der Treppe und zwischen den beiden Fahrbahnen der Nationalstraße 246 befand sich ein überdachter eingezäunter Abstellplatz für Baumaterialien. Auf der blanken Erde lagen ein paar Eisenstangen, die wahrscheinlich bei irgendwelchen Arbeiten übrig geblieben waren. Man hatte sie dort hingeworfen, und mittlerweile waren sie verrostet. In einer Ecke lagen unter einer
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