1Q84: Buch 1&2
gibt es noch zu viele Unsicherheitsfaktoren. Niemand weiß, was alles passieren kann. Wir machen einen Fehler, und damit ist alles zunichte. Das ist mir klar. Aber jenseits aller Bedenken sagt mir mein Instinkt: Mach weiter! Eine solche Chance bekommst du nicht alle Tage. Bisher hatte ich sie jedenfalls noch nie. Und wahrscheinlich werde ich sie auch nie wieder haben. Vielleicht ist das kein passender Vergleich, aber wir haben ein Blatt mit lauter Trümpfen in der Hand und dazu massenweise Jetons. Alle Voraussetzungen stimmen. Wenn wir jetzt die Gelegenheit verpassen, werden wir es später bereuen.«
Schweigend musterte Tengo Komatsu, auf dessen Gesicht sich ein unheilverkündendes Grinsen ausbreitete.
»Das Wichtigste ist, dass wir alles tun, um ›Die Puppe aus Luft‹ in eine richtig gut geschriebene Geschichte zu verwandeln. Dass sie wird, wie sie sein sollte. Hierin liegt eine große Aufgabe. Jemand muss sich der Sache in kompetenter Weise annehmen. Das findest du doch im Grunde deines Herzen auch. Habe ich recht? Wir müssen dieses Projekt mit vereinten Kräften und mit unseren jeweiligen Fähigkeiten in Angriff nehmen. Es ist doch nichts Anrüchiges dabei, einen Beweggrund zu haben.«
»Aber, Herr Komatsu, Sie können Gründe und Rechtfertigungen anbringen, soviel Sie wollen, es ist und bleibt Betrug. Es mag sein, dass ein Beweggrund keine Schande ist, aber dabei kommt doch nichts heraus. Man muss hintenrum agieren. Wenn Ihnen das Wort Betrug nicht passt, dann ist es eben eine unlautere Tat. Selbst wenn wir damit nicht gegen das Gesetz verstoßen, bleibt noch immer die Frage der Moral. Wenn ein Redakteur ein Werk dahingehend manipuliert, dass es einen Preis bekommt, den seine eigene Zeitschrift vergibt, würde man das im Börsenjargon ein Insidergeschäft nennen, oder?«
»Die Literatur kann man nicht mit dem Aktienmarkt vergleichen. Das ist etwas völlig anderes.«
»In welcher Hinsicht zum Beispiel?«
»Also, beispielsweise lässt du einen bedeutenden Umstand außer Acht«, sagte Komatsu. Vergnügt verzog er den Mund zu nie dagewesener Größe und Breite. »Besser gesagt, du willst ihn nicht sehen. Du hast ja selbst schon gesagt, dass du es gern machen würdest . Gefühlsmäßig bist du der Bearbeitung von ›Die Puppe aus Luft‹ gar nicht abgeneigt. Das weiß ich genau. Risiko und Moral hin oder her, du sehnst dich geradezu danach, ›Die Puppe aus Luft‹ jetzt und mit deinen eigenen Händen zu bearbeiten. Du kannst es kaum aushalten, so gern möchtest du selbst etwas daraus machen. Und genau das ist der Unterschied zwischen Literatur und Aktienmarkt. In der Literatur gibt es im Guten wie im Schlechten Beweggründe, die nichts mit Geld zu tun haben. Am besten gehst du jetzt mal nach Hause und machst dir deine wahren Gefühle klar. Stell dich vor den Spiegel und sieh dir selbst genau ins Gesicht. Es steht deutlich darin geschrieben.«
Tengo hatte plötzlich das Gefühl, dass die Luft um ihn herum dünner wurde. Er schaute sich kurz um. War wieder eine seiner Visionen im Anzug? Nein, das waren nicht die Symptome. Tengo zog ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wie kam es nur, dass Komatsu mit dem, was er sagte, immer richtig lag?
KAPITEL 3
Aomame
Einige Dinge, die sich verändert haben
Aomame stieg auf Strümpfen die schmale Treppe hinunter. Der Wind blies heulend um die offene Treppe. Ihr Minirock war eng, aber bisweilen fuhr ein heftiger Windstoß darunter und blähte ihn wie das Segel einer Yacht, sodass sie fast abhob und ins Schwanken geriet. Sie umklammerte das Geländer und stieg Stufe für Stufe rückwärts hinunter. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen oder den Riemen ihrer Umhängetasche zurechtzurücken.
Unter ihr verlief die Nationalstraße 246. Das Tosen der Stadt – Motorenlärm und Gehupe, Polizeisirenen, Marschmusik aus einem Propagandawagen rechtsgerichteter Aktivisten, Schlagbohrer, die irgendwo Beton zertrümmerten – umgab sie. Es drang in einem Radius von 360 Grad von oben, von unten und aus allen Richtungen auf sie ein, segelte tanzend mit dem Wind und erzeugte in ihr (nicht dass sie es hören wollte, aber sie konnte ihre Ohren ja nicht verschließen) allmählich eine Übelkeit, die sich fast wie Seekrankheit anfühlte.
Nach einer Weile gelangte sie auf der Treppe an einen breiten Steg, der zur Autobahn zurückführte. Aomame stieg weiter geradeaus nach unten.
Gegenüber, von der offenen Treppe
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