1Q84: Buch 1&2
sie sich hinten im Laden anziehen zu dürfen. Das stellte ihr Wohlbefinden einigermaßen wieder her. Fast hatte sie sich gefühlt, als habe sie zu viel getrunken. Aber auch die restliche Übelkeit in ihrem Magen hatte sich nun ganz verflüchtigt. Aomame bedankte sich bei der Verkäuferin und verließ die Drogerie.
Der Verkehr auf der Nationalstraße 246 war viel dichter als gewöhnlich. Vielleicht hatte sich die Nachricht von dem Unfall und Stau auf der Stadtautobahn verbreitet. Aomame beschloss, auf ein Taxi zu verzichten und an der nächsten Station in die Tokyu-Tamagawa-Linie zu steigen. Das war zweifellos das Beste. Bloß nicht mehr im Taxi in einen Stau geraten.
Am Bahnhof Sangenjaya lief ein Polizist mit raschen Schritten an ihr vorbei. Eine kurze Anspannung ergriff Aomame, aber der hochgewachsene junge Mann schien es eilig zu haben und rannte weiter geradeaus, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Ihr fiel auf, dass seine Polizeiuniform sich von der üblichen unterschied. Es war nicht die, die ihr vertraut war. Die Jacke war zwar vom gleichen Dunkelblau, aber ihr Schnitt war anders. Zwangloser und sportlicher. Nicht so steif wie sonst. Auch der Stoff schien weicher. Der Kragen war kleiner und das Blau etwas heller. Außerdem trug er einen anderen Typ Waffe an der Hüfte, eine große Automatikpistole. Eigentlich war die japanische Polizei mit Revolvern ausgerüstet. In Japan, wo Verbrechen mit Schusswaffen extrem selten waren, reichten altmodische Revolver mit sechs Kammern völlig aus, da die Polizei kaum je in einen Schusswechsel verwickelt wurde. Revolver waren einfach gebaut und preiswert, zu Defekten kam es selten, und die Wartung war nicht aufwendig. Doch aus irgendeinem Grund trug dieser Polizist ein neues halbautomatisches 9-mm-Modell, mit dem man sechzig Schuss abfeuern konnte. Vielleicht eine Glock oder eine Beretta. Irgendetwas musste geschehen sein. Hatten sich Uniformvorschriften und Bewaffnung geändert, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte? Nein, das konnte eigentlich nicht sein. Aomame legte viel Wert auf eine genaue Zeitungslektüre. Hätte eine solche Änderung stattgefunden, wäre groß darüber berichtet worden. Außerdem zollte sie Polizisten stets besondere Aufmerksamkeit. Bis heute Morgen, also bis vor ganz kurzer Zeit, hatten sie die gewohnte steife Uniform und die üblichen plumpen Revolver getragen. Daran konnte sie sich ganz genau erinnern. Seltsam.
Aber sie hatte nicht die Zeit, weiter darüber nachzudenken. Sie hatte einen Auftrag zu erledigen.
Aomame verstaute ihren Mantel in einem Schließfach am Bahnhof Shibuya und eilte dann zu Fuß den Hang zum Hotel hinauf. Es war ein Mittelklasse-Hotel, nicht sonderlich luxuriös, aber einigermaßen sauber, gut ausgestattet und ohne zwielichtige Gäste. Im Parterre befand sich ein Restaurant, und einen Supermarkt gab es auch. Außerdem war es in der Nähe des Bahnhofs gelegen.
Vom Hoteleingang ging sie direkt zu den Toiletten. Glücklicherweise war niemand dort. Als Erstes setzte sie sich und urinierte ausgiebig. Sie schloss die Augen und lauschte, ohne an etwas zu denken, dem Plätschern ihres eigenen Urins, als sei es fernes Meeresrauschen. Anschließend trat sie an ein Waschbecken, wusch sich die Hände gründlich mit Seife, bürstete sich die Haare und schnäuzte sich die Nase. Sie holte Zahnbürste und Zahnpasta hervor und putzte sich rasch die Zähne. Für Zahnseide fehlte ihr die Zeit. Sie brauchte es ja auch nicht zu übertreiben, schließlich handelte es sich nicht um ein Rendezvous. Sie sah in den Spiegel, legte etwas Lippenstift auf und strich sich die Brauen glatt. Dann zog sie die Kostümjacke aus, rückte die Bügel ihres BHs zurecht, strich ihre weiße Bluse glatt, prüfte, ob sie unter den Achseln nach Schweiß roch. Kein Geruch. Anschließend schloss sie die Augen und sprach wie immer ein Gebet. Die Worte an sich hatten keinerlei Bedeutung. Ihr Inhalt spielte keine Rolle. Das Beten selbst war das Wichtige.
Als sie damit fertig war, öffnete sie die Augen und betrachtete sich im Spiegel. Alles in Ordnung. In jeder Hinsicht die perfekte Geschäftsfrau. Sie straffte die Schultern und zog die Mundwinkel hoch. Nur ihre große bauchige Umhängetasche wirkte ein wenig fehl am Platz. Sie hätte wohl besser ein flaches Attachéköfferchen tragen sollen. Aber abgesehen davon sah sie äußerst professionell aus. Zur Sicherheit überprüfte sie noch einmal den Inhalt ihrer Tasche. Kein Problem. Alles war an Ort und Stelle,
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