1Q84: Buch 1&2
arbeitsteilig nach von Verlagsseite erstellten Richtlinien. Sonst würden sie keine Massenproduktion hinbekommen. Weil wir im gestrengen Reich der hohen Literatur dieses System nicht offiziell anwenden dürfen, stellen wir aus strategischen Gründen ein Mädchen namens Fukaeri nach vorn. Wenn das rauskommt, gibt es vielleicht einen kleinen Skandal. Aber gegen das Gesetz ist so etwas nicht. Es liegt vielmehr im Trend der Zeit. Außerdem reden wir hier nicht von Balzac oder Murasaki Shikibu. Wir nehmen uns nur den löchrigen Text einer Oberschülerin vor und versuchen ein ordentliches Werk daraus zu machen. Was soll daran verboten sein? Ist doch prima, wenn das fertige Buch gut ist und zahlreiche Leser sich daran erfreuen, oder nicht?«
Tengo dachte über Komatsus Erklärung nach. »Es gibt zwei Probleme«, sagte er nachdrücklich. »Natürlich sind es noch viel mehr, aber nehmen wir vorläufig mal diese beiden. Erstens: Wird Fukaeri, die ja die Autorin ist, Änderungen von anderer Hand akzeptieren? Wenn sie Nein sagt, kommen wir sowieso keinen Schritt weiter. Gesetzt den Fall, sie ist einverstanden, stellt sich die zweite Frage: Wird es mir wirklich gelingen, ihre Geschichte angemessen zu bearbeiten? So eine Zusammenarbeit kann höchst kompliziert sein und funktioniert nicht so leicht, wie Sie sich das vielleicht vorstellen, Herr Komatsu.«
»Du kannst das«, sagte Komatsu wie aus der Pistole geschossen, als habe er diesen Einwand vorausgesehen. »Daran habe ich keinen Zweifel. Dieser Gedanke ist mir sofort gekommen, als ich ›Die Puppe aus Luft‹ angefangen habe. Das muss Tengo bearbeiten, sagte ich mir. Das ist genau die richtige Geschichte für Tengo. Sie schreit geradezu danach, von dir redigiert zu werden. Findest du nicht?«
Tengo schüttelte nur den Kopf. Ihm fehlten die Worte.
»Wir haben keine Eile«, sagte Komatsu ruhig. »Die Sache ist wichtig. Du kannst sie dir zwei oder drei Tage lang überlegen. Lies ›Die Puppe aus Luft‹ noch einmal. Ich möchte, dass du gut über meinen Vorschlag nachdenkst. Ach ja, und das gebe ich dir auch.«
Komatsu zog einen braunen Umschlag aus seinem Jackett und überreichte ihn Tengo. Es waren zwei gewöhnliche Farbfotos darin. Beide von einem Mädchen. Das eine zeigte sie bis zur Brust, das andere ganz. Sie schienen kurz hintereinander aufgenommen worden zu sein. Sie stand vor irgendeiner Treppe. Einer breiten Steintreppe. Sie hatte klassisch schöne Züge und langes glattes Haar. Eine weiße Bluse. Sie war klein und zierlich. Ihre Lippen lächelten bemüht, aber ihre Augen widersetzten sich. Zu ernste Augen. Augen, die etwas suchten. Tengo schaute eine Weile zwischen den beiden Bildern hin und her. Er wusste nicht warum, aber die Fotos erinnerten ihn an sich selbst, als er in diesem Alter gewesen war. Und er verspürte ein leichtes Ziehen in der Brust. Es war ein ganz eigener Schmerz, den er schon länger nicht mehr gespürt hatte. Der Anblick des Mädchens schien ihn aufzuwecken.
»Das ist Fukaeri«, sagte Komatsu. »Ziemlich hübsch. Außerdem ist sie der adrette Typ. Siebzehn Jahre alt. Nichts an ihr auszusetzen. Ihr richtiger Name lautet Eriko Fukada. Aber den geben wir nicht heraus. Wir bleiben bis zum Schluss bei Fukaeri. Falls sie den Akutagawa-Preis bekommt, gibt das Gesprächsstoff, meinst du nicht? Die Presseleute werden sie umflattern wie Motten das Licht. Das Buch wird sich von Anfang an verkaufen.«
Tengo fragte sich verwundert, wo Komatsu die Fotos wohl herhatte. Den eingereichten Manuskripten wurden eigentlich keine Fotografien beigelegt. Aber er entschied sich, ihn nicht danach zu fragen. Manchmal wollte man eine Antwort gar nicht wissen.
»Du kannst sie behalten. Vielleicht nutzen sie dir was«, sagte Komatsu. Tengo steckte die Fotos in den Umschlag zurück und legte ihn auf das Manuskript von »Die Puppe aus Luft«.
»Ich habe so gut wie keine Ahnung von geschäftlichen Dingen, Herr Komatsu. Aber mit gesundem Menschenverstand betrachtet, ist das ein ziemlich riskanter Plan. Hat man eine solche Lüge einmal in die Welt gesetzt, muss man sie für alle Ewigkeit aufrechterhalten. Man darf sich nie widersprechen. Aus psychologischer Sicht und auch in der Praxis dürfte das nicht so leicht sein. Sobald jemand irgendwo einen Fehler macht, kann das allen Beteiligten den Hals brechen. Meinen Sie nicht?«
Komatsu zog eine neue Zigarette hervor und steckte sie an. »Natürlich. Was du sagst, hat Hand und Fuß. Der Plan ist wirklich riskant. Im Augenblick
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