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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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durch eine Straße getrennt, stand ein vierstöckiges kleines Wohnhaus. Es war ein solides, neues Gebäude aus braunen Backsteinen. Die Balkone zeigten in Aomames Richtung, doch alle Fenster waren fest geschlossen und Vorhänge oder Rollläden zugezogen. Wie konnte man Balkone so positionieren, dass die Leute die Stadtautobahn direkt vor der Nase hatten? Als ob dort jemand seine Bettwäsche trocknen oder bei einem Gin Tonic den abendlichen Verkehrsstau betrachten würde. Und dennoch waren auf einigen der Balkone Wäscheleinen aus Nylon gespannt. Auf einem standen Gartenstühle und sogar ein Gummibaum. Er war fast hinüber und verblasst. Die Blätter waren welk und hatten braune Stellen. Aomame konnte nicht umhin, Mitgefühl für ihn zu empfinden. Sollte sie einmal wiedergeboren werden, dann bloß nicht als eine solche Topfpflanze.
    Die Treppe schien normalerweise kaum benutzt zu werden, und überall hatten Spinnen ihre Netze gespannt, in denen die schwarzen Tierchen hingen und geduldig auf ihre kleine Beute warteten. Auch für ein Dasein als Spinne hätte ihr definitiv die Geduld gefehlt. Ein Lebensstil, zu dem man keine Fähigkeiten brauchte außer der, ein Netz zu spannen und reglos darin zu sitzen, war keine Alternative. Das Leben ging dahin, indem man an einer Stelle hockte und auf Beute lauerte, schließlich vertrocknete und starb. Es war in ihren Genen angelegt. Die Spinnen kannten keine Zweifel, keine Verzweiflung und keine Reue. Metaphysische Fragen und moralische Bedenken waren ihnen wahrscheinlich fremd. Aber ich muss es anders machen, dachte Aomame. Ich muss auf mein Ziel zusteuern, deshalb klettere ich irgendwo in Sangenjaya allein auf einer blöden Eisentreppe von der Stadtautobahn Nr. 3 und zerreiße mir die Strümpfe. Dabei wische ich irgendwelche Spinnweben beiseite und starre staubige Gummibäume auf idiotischen Balkonen an. Ich bewege mich, also bin ich.
    Während Aomame weiter die Treppe hinunterstieg, musste sie an Tamaki Otsuka denken. Sie wollte es nicht, aber als der Gedanke an ihre beste Freundin sich einmal in ihrem Kopf festgesetzt hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Tamaki und sie waren zusammen auf der Oberschule gewesen und hatten zum gleichen Softball-Team gehört. Sie hatten viel zusammen erlebt. Einmal waren sie sich sogar sexuell nahegekommen. Damals – es war auf einer Reise in den Sommerferien gewesen – hatten sie nur noch ein Zimmer mit einem französischen Bett bekommen, indem sie gemeinsam schliefen. In diesem Bett hatten sie sich gegenseitig überall berührt. Aber lesbisch waren die beiden jungen Frauen nicht, nur neugierig. Es war eher ein Experiment in diese Richtung gewesen. Damals hatte keine von ihnen einen Freund oder überhaupt sexuelle Erfahrungen gehabt. Die Ereignisse jener Nacht waren Aomame bis heute als eine »außergewöhnliche, aber höchst interessante« Episode in ihrem Leben im Gedächtnis geblieben. Doch als Aomame jetzt, während sie die offene Eisentreppe hinunterstieg, an die Berührung von Tamakis Körper dachte, breitete sich in ihrem Inneren eine gewisse Hitze aus. Zu ihrer Verwunderung erinnerte sich Aomame auch jetzt noch ganz deutlich an Tamakis ovale Brustwarzen, ihr feines Schamhaar, die hübsche Rundung ihres Hinterns und die Form ihrer Klitoris.
    Während sie ihren lebhaften Erinnerungen nachhing, erklang in ihrem Kopf als Hintergrundmusik das volltönende festliche Unisono der Bläser aus Janáčeks Sinfonietta . Sacht streichelte sie über Tamaki Otsukas geschwungene Taille. Anfangs hatte Tamaki noch gesagt, es kitzle, doch dann hörte sie auf zu kichern. Ihre Atmung veränderte sich. Das Stück war ursprünglich als Fanfare für ein Sportfest komponiert worden. Mit der Musik strich sanft der Wind über die grünen böhmischen Wiesen. Aomame spürte, wie Tamakis Brustwarzen sich versteiften. Die Pauken ertönten in einer komplizierten raschen Tonfolge.
    Aomame blieb stehen und schüttelte mehrmals leicht den Kopf. Sie durfte an einem Ort wie diesem nicht an solche Dinge denken. Sie musste sich auf den Abstieg konzentrieren. Aber sie konnte nicht aufhören. Eine nach der anderen erschienen die Szenen von damals vor ihrem inneren Auge. Ganz deutlich, ganz frisch. Die Sommernacht, das nicht sehr breite Bett, der leichte Geruch von Schweiß. Die ausgesprochenen Worte. Die unausgesprochenen Gefühle. Die vergessenen Versprechen. Das ungestillte Verlangen. Die Sehnsucht, die ihr Ziel verloren hatte. Ein Windstoß ergriff ihr Haar und schlug es

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