1Q84: Buch 1&2
eine so warme und subtile Darbietung könne man lange suchen. Sein Spiel erwecke – natürlich nur, wenn er besonders gut war – eine fantastische Landschaft vor ihrem inneren Auge. Tengo kannte keine anderen Jazzklarinettisten, aber dass die Klarinette auf dieser Platte eine unaufdringliche Schönheit besaß, wurde ihm beim öfteren Hören immer klarer. Um dies zu erfassen, musste man aufmerksam zuhören. Und jemanden haben, der einen dazu anleitete. Einem oberflächlichen Zuhörer würde sie entgehen.
»Man könnte Barney Bigard mit einem genialen Second Baseman beim Baseball vergleichen«, sagte Tengos Freundin. »Er ist auch als Solist großartig, aber seine wahren Qualitäten treten erst zutage, wenn er im Hintergrund bleibt. Ihm gelingen die schwierigsten Passagen, als wäre es gar nichts. Nur wer aufmerksam zuhört, merkt, was für ein Künstler er ist.«
Jedes Mal, wenn »Atlanta Blues« einsetzte – das sechste Stück auf der B-Seite der LP –, drückte sie einen von Tengos Körperteilen und pries die Erlesenheit von Bigards vortrefflichem Solo, das zwischen Louis Armstrongs Gesang und Solo eingebettet war. »Da, jetzt pass auf. Gleich am Anfang – ein langer verblüffender Schrei, wie von einem kleinen Kind. Man weiß nicht, ob vor Erstaunen oder überschäumender Freude oder Glück. Er wird zu einem wonnevollen Seufzer, schlängelt sich dahin wie ein reizender Bach und wird schließlich mühelos von einer hübschen unbekannten Stelle aufgenommen. Da! Keiner spielt so aufregende Soli wie Bigard. Nicht einmal Spitzenklarinettisten wie Jimmie Noone, Sydney Bechet, Pee Wee und Benny Goodman kriegen das hin. Es ist wie ein edles Kunstwerk. An ihn reicht keiner heran.«
»Wieso kennst du dich eigentlich so gut mit altem Jazz aus?«, hatte Tengo sie einmal gefragt.
»Es gibt eine Menge Dinge in meiner Vergangenheit, von denen du nichts weißt. Aber was vorbei ist, ist vorbei, das kann niemand mehr ändern«, sagte sie und streichelte zärtlich Tengos Hoden.
Nachdem Tengo sein morgendliches Pensum absolviert hatte, spazierte er zum Bahnhof, um sich am Kiosk eine Zeitung zu kaufen. Anschließend setzte er sich in ein Café und bestellte ein Frühstück. Während er auf seinen Toast mit Butter und die gekochten Eier wartete, trank er Kaffee und las die Zeitung. Komatsu hatte recht gehabt: Auf den Gesellschaftsseiten oberhalb einer Mitsubishi-Autowerbung stieß er auf einen – nicht sehr langen – Artikel über Fukaeri. »Bekannte Oberschulschriftstellerin vermisst« lautete die Überschrift.
»Am Nachmittag des ** wurde bekannt, dass Eriko Fukada (17), genannt ›Fukaeri‹, die Autorin des jüngsten Bestsellers Die Puppe aus Luft , verschwunden ist. Ihr Vormund, der Kulturanthropologe Takayuki Ebisuno (63), gab auf dem Polizeirevier Ome eine Vermisstenanzeige auf. Er erklärt, seit dem Abend des 27. Juni nichts mehr von Eriko gehört zu haben. Sie sei weder in sein Haus in Ome noch in sein Apartment in der Tokioter Innenstadt zurückgekehrt. Laut telefonischer Recherche gibt Professor Ebisuno an, dass ihm bei seiner letzten Begegnung mit Eriko nichts Außergewöhnliches aufgefallen sei. Er könne sich keinen Grund für ihr Verschwinden vorstellen, denn sie sei bisher nie von zu Hause fortgeblieben, ohne Bescheid zu sagen. Der Professor befindet sich in großer Sorge, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Der für die Herausgabe von Die Puppe aus Luft zuständige Redakteur Herr Yuji Komatsu gab folgende Erklärung ab: ›Frau Fukadas Buch steht seit sechs Wochen auf den Bestsellerlisten und ist eine Sensation. Allerdings scheut unsere Autorin die Massenmedien. Dem Verlag ist nicht bekannt, ob ihr Verschwinden mit dieser Aversion in Zusammenhang steht. Frau Fukada ist noch jung und sehr begabt, eine vielversprechende Autorin. Wir hoffen, dass sie möglichst rasch und gesund wieder auftaucht.‹ Die Polizei geht verschiedenen Spuren nach und setzt ihre Suche fort.«
Mehr können sie im gegenwärtigen Stadium nicht schreiben, dachte Tengo. Wenn sie die Sache jetzt zu einer großen Sache aufbauschen und Fukaeri auf einmal wieder auftaucht, als sei nichts gewesen, ist der Verfasser des Artikels blamiert. Auch die Zeitung selbst hat einen Ruf zu verlieren. Für die Polizei gilt quasi das Gleiche. Mit einem neutralen Statement wie diesem lassen sie erst mal einen Versuchsballon steigen, um die Reaktion in der Öffentlichkeit zu beobachten. Schlägt die Nachricht ein, greift die Regenbogenpresse sie auf,
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