1Q84: Buch 1&2
Handrücken.
»Dort wurde eine formelle Adoption durchgeführt, ich erhielt die japanische Staatsbürgerschaft und einen japanischen Namen. Ken’ichi Tamaru. Von meinem ursprünglichen Namen weiß ich nur, dass er Pak lautete. Und dass Koreaner mit diesem Namen so zahlreich wie Sterne am Himmel sind.«
Aomame und Tamaru saßen nebeneinander und lauschten den Zikaden.
»Du solltest einen neuen Hund kaufen«, sagte Aomame.
»Das hat Madame auch schon gesagt. Das Haus braucht einen neuen Wachhund. Aber mir ist nicht danach.«
»Kann ich verstehen. Allerdings wäre es wirklich besser. Ich bin weiß Gott nicht in der Position, anderen Ratschläge zu erteilen, aber ich finde das auch.«
»Natürlich«, sagte Tamaru. »Wir brauchen einen gut abgerichteten Wachhund. Ich werde mich möglichst schnell an einen Hundezüchter wenden.«
Aomame sah auf die Uhr und erhob sich. Bis zum Sonnenuntergang war noch etwas Zeit. Dennoch waren am Himmel schon die Anzeichen des sich neigenden Tages zu erkennen. In das helle Blau mischte sich ein dunklerer Ton. Die leichte Trunkenheit, die der Sherry in ihr hervorgerufen hatte, war noch nicht ganz gewichen. Ob die alte Dame noch schlief?
»Tschechow hat – sinngemäß – einmal gesagt, wenn in einer Geschichte ein Gewehr vorkommt, dann muss es auch abgefeuert werden«, sagte Tamaru, während auch er langsam aufstand.
»Was bedeutet das?«
Tamaru stand nun Aomame gegenüber. Er war nur wenige Zentimeter größer als sie. »Dass es in einer Geschichte keine unnötigen Requisiten geben sollte. Wenn ein Gewehr erscheint, muss es auch irgendwann zum Einsatz kommen. Tschechow zog Geschichten ohne überflüssige Verzierungen vor.«
Aomame zupfte den Ärmel ihres Kleids zurecht und hängte sich ihre Tasche über die Schulter. »Und deshalb machst du dir Sorgen. Du denkst, sobald eine Pistole im Spiel ist, wird bestimmt auch irgendwann damit geschossen.«
»Aus Tschechows Sicht ja.«
»Also würdest du mir am liebsten keine besorgen.«
»Es ist gefährlich und illegal. Außerdem ist Tschechow ein Autor, auf den man sich verlassen kann.«
»Aber hier geht es nicht um eine erfundene Geschichte. Sondern um die Realität.«
Tamaru kniff die Augen zusammen und fixierte Aomame. Dann sagte er mit sanfter Stimme: »Wer weiß?«
KAPITEL 2
Tengo
Mein einziger Besitz ist meine Seele
Tengo legte die Sinfonietta von Janáček auf den Plattenteller und drückte den Automatikknopf. Es war eine Aufnahme des Chicago Symphony Orchestra unter der Leitung von Seiji Ozawa. Die Platte drehte sich mit dreiunddreißig Rotationen pro Minute, die Nadel tastete die Rille ab, während der Tonarm ins Zentrum der Schallplatte wanderte. Aus dem Lautsprecher ertönte die Fanfare mit den Bläsern und den imposanten Paukenschlägen. Tengos Lieblingspassage.
Währenddessen schrieb er mit seinem Textverarbeitungsgerät. Früh am Morgen die Sinfonietta von Janáček zu hören zählte zu seinen alltäglichen Gewohnheiten. Seit er einmal im Schulorchester bei diesem Stück als Paukist eingesprungen war, hatte es eine ganz besondere Bedeutung für ihn. Er empfand diese Musik als eine persönliche Ermunterung und einen persönlichen Schutz.
Er hatte die Sinfonietta auch mit seiner Freundin gehört. Sie hatte sie für »gar nicht so übel« befunden. Allerdings zog sie alte Jazzplatten der klassischen Musik vor. Je älter die Stücke waren, desto lieber schienen sie ihr zu sein. Ein etwas sonderbares Hobby für eine Frau in ihrem Alter. Eine besondere Vorliebe hegte sie für eine Platte, auf der der junge Louis Armstrong Bluesnummern von W. C. Handy interpretierte. Mit Barney Bigard an der Klarinette und Trummy Young an der Posaune. Sie hatte sie Tengo geschenkt. Vermutlich eher, um sie selbst zu hören, als um ihm eine Freude zu machen.
Die beiden hörten diese Platte häufig, wenn sie nach dem Sex noch zusammen im Bett lagen. Seine Freundin bekam niemals genug davon. »Louis Armstrong ist wundervoll, es gibt nichts an ihm auszusetzen, aber meiner bescheidenen Meinung nach gebührt die größte Aufmerksamkeit Barney Bigard«, erklärte sie. Obwohl Barney Bigard auf dieser Platte nur ein paar kurze Klarinettensolos spielte, die gerade mal über einen Chorus gingen. Mittelpunkt der Platte war Louis Armstrong. Aber Tengos Freundin kannte jedes der wenigen Soli von Bigard in- und auswendig und summte sie stets leise mit.
Sicher, sagte sie, gebe es neben Barney Bigard noch andere hervorragende Jazzklarinettisten. Aber
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