1Q84: Buch 1&2
Alternative. Das ist praktischer, als eine Waffe in der Hand halten zu müssen.«
»Es dauert aber, bis man das Gift herausgeholt und geschluckt hat. Während man sich die Kapsel in den Mund steckt und zerbeißt, ist man handlungsunfähig. Aber mit einer Waffe in der Hand kann man einen Gegner in Schach halten, während man die Sache erledigt.«
Tamaru überlegte kurz. Er zog die rechte Augenbraue hoch.
»Ich würde dich höchst ungern missen. Ich mag dich relativ gern. Also persönlich.«
Aomame musste lächeln. »Das heißt, für einen weiblichen Menschen?«
Tamaru änderte seinen Ausdruck nicht. »Mann, Frau oder Hund; viele sind es nicht, die ich mag.«
»Verstehe«, sagte Aomame.
»Allerdings ist es meine allerhöchste Priorität, die Sicherheit und die körperliche Unversehrtheit von Madame zu gewährleisten. Und ich bin, wie soll ich sagen, so etwas wie ein Profi.«
»Selbstverständlich.«
»Aber ich will sehen, was ich in diesem Rahmen für dich tun kann. Keine Garantie. Aber möglicherweise habe ich einen Bekannten, der dein Anliegen erfüllen kann. Allerdings bleibt das eine extrem heikle Angelegenheit. Das ist etwas anderes, als in einem Versandhaus eine Heizdecke zu bestellen. Es wird etwa eine Woche dauern, bis ich dir Bescheid geben kann.«
»Kein Problem«, sagte Aomame.
Tamaru kniff die Augen zusammen und blickte hinauf in die Bäume, wo die Zikaden zirpten. »Ich wünsche dir, dass alles gutgeht. Und ich werde mein Möglichstes tun.«
»Danke. Diese Mission wird wahrscheinlich meine letzte sein. Vielleicht werden wir uns danach nie wiedersehen.«
Tamaru breitete die Arme aus, seine Handflächen zeigten nach oben. Wie ein Mensch, der mitten in der Wüste steht und darauf wartet, dass es anfängt zu regnen. Aber er sagte nichts. Seine Handflächen waren groß und dick gepolstert. An einigen Stellen waren sie vernarbt. Sie erinnerten weniger an Körperteile als an die Schaufeln einer schweren Maschine.
»Ich nehme nicht gern Abschied«, sagte Tamaru. »Ich hatte nicht mal Gelegenheit, mich von meinen Eltern zu verabschieden.«
»Sind sie tot?«
»Ich weiß es nicht. Ich wurde ein Jahr vor Kriegsende auf Sachalin geboren. Der südliche Teil von Sachalin war japanisches Territorium und hieß damals Karafuto. Im Sommer 1945 wurde es von den Sowjets besetzt, und meine Eltern gerieten in Gefangenschaft. Mein Vater hat offenbar im Hafen gearbeitet. Der größte Teil der gefangen genommenen japanischen Zivilbevölkerung wurde bald repatriiert, aber meine Eltern waren koreanische Zwangsarbeiter und durften nicht nach Japan. Die japanische Regierung lehnte ihre Rückführung mit der Begründung ab, dass Menschen, die von der koreanischen Halbinsel stammten, seit Kriegsende keine Untertanen des Japanischen Kaiserreichs mehr seien. Keine sehr menschenfreundliche Angelegenheit. Wer wollte, konnte nach Nordkorea gehen, aber in den Süden durfte keiner. Denn die Sowjets erkannten damals die Existenz Koreas nicht an. Meine Eltern stammten aus einem Fischerdorf in der Nähe von Pusan und wollten nicht in den Norden. Weder hatten sie dort Verwandte, noch kannten sie überhaupt eine Menschenseele. Mich – ich war damals noch ein Baby – vertrauten sie japanischen Rückkehrern an. So kam ich nach Hokkaido. Die Versorgungslage auf Sachalin war damals katastrophal, und die Sowjetarmee behandelte die Gefangenen wie den letzten Dreck. Meine Eltern hatten außer mir noch mehrere kleine Kinder, und es wäre ihnen sicher ziemlich schwer gefallen, mich auch noch mit durchzufüttern. Also schickten sie mich allein nach Hokkaido vor, in der Hoffnung, später nachkommen zu können. Oder vielleicht wollten sie mich auch nur auf halbwegs anständige Weise loswerden. Die genauen Umstände kenne ich nicht. Jedenfalls habe ich sie nie wiedergesehen. Vielleicht leben sie noch immer auf Sachalin. Wenn sie nicht tot sind.«
»Du hast überhaupt keine Erinnerung an deine Eltern?«
»Nein. Ich war ja noch nicht mal ein Jahr alt, als ich von ihnen getrennt wurde. Nachdem dieses Ehepaar sich eine Weile um mich gekümmert hatte, gingen ihm offenbar die Mittel aus, und ich kam in ein Waisenhaus in den Bergen bei Hakodate. Die Einrichtung wurde von einer katholischen Mission geleitet, aber es ging dort ganz schön hart zu. Unmittelbar nach dem Krieg gab es sehr viele Waisen und nie genügend Lebensmittel und Heizmaterial. Wer überleben wollte, musste alles Mögliche anstellen.« Tamaru warf einen kurzen Blick auf seinen
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