1Q84: Buch 1&2
du damals in unserem Klassenzimmer meine Hand gedrückt hast. Danach hätte ich mich so gern mit dir angefreundet. Und dich besser kennengelernt. Aber ich konnte einfach nichts tun. Dafür gab es alle möglichen Gründe, aber das größte Problem war meine Schüchternheit. Ich habe das immer bereut. Ich bereue es heute noch. So oft habe ich an dich gedacht.« Natürlich würde er nicht sagen, dass er beim Masturbieren an sie gedacht hatte. Das wäre ihm dann doch allzu offen und ehrlich gewesen.
Aber vielleicht sollte ich mir das gar nicht wünschen, dachte Tengo. Vielleicht wäre es besser, sich nicht wiederzusehen. Womöglich würde er eine Enttäuschung erleben. Und aus Aomame war eine langweilige Büroangestellte mit abgespanntem Gesicht geworden. Oder eine frustrierte Mutter, die mit schriller Stimme auf ihre Kinder einschrie. Vielleicht könnten sie kein einziges gemeinsames Thema finden. Diese Möglichkeit bestand durchaus. Dann hätte Tengo das Einzige, das ihm etwas wert war, das Einzige, an dem ihm dauerhaft etwas lag, für immer verloren. Dennoch war er fast sicher, dass es so nicht sein würde. Er war überzeugt, dass die Anfechtungen der Zeit dem entschlossenen Blick dieser Zehnjährigen und ihrem willensstarken Profil nicht so leicht etwas hatten anhaben können.
Und er? Würde er einem Vergleich standhalten?
Der Gedanke beunruhigte Tengo.
Wäre im Falle eines Wiedersehens nicht vielmehr Aomame die Enttäuschte? In der Grundschule war Tengo ein von allen bewundertes Mathematikgenie gewesen. Er war in fast allen Fächern der Beste, dazu körperlich kräftig und sehr gut in Sport gewesen. Die Lehrer hatten große Stücke auf ihn gehalten und jede Menge Hoffnungen in seine Zukunft gesetzt. Vielleicht war er in Aomames Augen eine Art Held gewesen. Doch nun arbeitete er als Lehrer an einer Yobiko, war nicht einmal fest angestellt. Als großartige Karriere konnte man das nicht gerade bezeichnen. Das war zwar ganz bequem, und für einen allein reichte es allemal, aber davon, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein, war er ziemlich weit entfernt. Nebenher betätigte er sich als Schriftsteller, doch abgesehen von ein paar erfundenen Horoskopen für Frauenzeitschriften war bisher noch nie etwas von ihm gedruckt worden. Die galten zwar als gelungen, waren aber nüchtern betrachtet nicht mehr als zusammengekritzelter Schwindel. Er hatte keinen besten Freund, mit dem er sich aussprechen konnte, und keine feste Freundin. Seine einzige zwischenmenschliche Beziehung hatte er zu einer zehn Jahre älteren Frau, mit der er sich einmal in der Woche traf. Und die bisher einzige Leistung, auf die er stolz sein konnte, war seine Beteiligung am Aufstieg von Die Puppe aus Luft zum Bestseller, aber davon durfte nichts nach außen dringen, und wenn er platzte.
Als Tengo mit seinen Gedanken an dieser Stelle angelangt war, griff die Kassiererin nach seinem Korb.
Die Papiertüte mit den Einkäufen im Arm, kehrte er in seine Wohnung zurück. Er zog Shorts an und nahm sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank, die er im Stehen trank. Währenddessen setzte er einen großen Topf mit Wasser auf. Bis es kochte, pflückte er die Edamame von den Stängeln und salzte sie auf einem Schneidebrett gleichmäßig ein. Anschließend warf er sie in das kochende Wasser.
Tengo fragte sich, warum das Bild dieses mageren zehnjährigen Mädchens ihn niemals verließ. Sie hatte einmal nach dem Unterricht seine Hand gedrückt und dabei kein Wort gesagt. Mehr nicht. Dennoch war ihm, als habe Aomame damals einen Teil von ihm mit sich genommen. Einen Teil seiner Seele oder seines Körpers. Und dafür einen Teil von sich in ihm zurückgelassen. Dieser bedeutende Austausch hatte in allerkürzester Zeit stattgefunden.
Mit dem Küchenbeil zerkleinerte Tengo eine größere Menge Ingwer, schnitt Sellerie und Champignons in mundgerechte Stücke und hackte Koriander. Er schälte die Garnelen, wusch sie unter dem Wasserhahn und reihte sie auf Küchenkrepp ordentlich nebeneinander auf, als würde er eine Truppe Soldaten aufmarschieren lassen. Als die Edamame kochten, goss er sie durch ein Sieb und ließ sie abkühlen. Nun erhitzte er eine große Bratpfanne, gab helles Sesamöl hinein, ließ es zergehen und briet den Ingwer auf kleiner Flamme.
Wieder einmal dachte Tengo, wie wunderbar es wäre, wenn er sich jetzt sofort mit Aomame treffen könnte. Es würde ihm nichts ausmachen, wenn sie oder auch er selbst ein wenig enttäuscht sein würden. Er
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