Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
sterben musste. Deshalb konnte sie nicht anders, als das kostbare Wasser zu vergießen, wie sie ihre eigenen Tränen vergoss. Auch Jesus wusste, dass er bald den Pfad des Todes beschreiten würde. Und er sprach: »Wahrlich, ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.«
    Natürlich konnten sie die Zukunft nicht ändern.
    Tengo schloss noch einmal die Augen, atmete tief ein und reihte im Geist die Worte aneinander. Dann vertauschte er ihre Reihenfolge, sodass das Bild klarer wurde. Auch ihren Rhythmus präzisierte er.
    Nachdem er seine zehn Finger in der Luft bewegt hatte wie Vladimir Horowitz vor den achtundachtzig Tasten einer nagelneuen Klaviatur, begann er entschlossen, die Zeichen in das Textverarbeitungsgerät zu tippen.
    Er beschrieb eine Welt, in der des Nachts am östlichen Himmel zwei Monde standen. Die Menschen, die dort lebten. Und die Zeit, die dort verfloss.
    »Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.«

KAPITEL 5
    Aomame
    Der Kater als Vegetarier und die Maus
    Nachdem Aomame begriffen hatte, dass Ayumi tot war, fand in ihr ein Prozess der Anpassung statt. Zuerst kamen die Tränen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte lautlos, mit leicht bebenden Schultern. Offenbar wollte sie nicht, dass irgendjemand auf der Welt etwas davon bemerkte.
    Die Vorhänge vor dem Fenster waren dicht zugezogen; dennoch konnte man nie wissen, ob nicht doch von irgendwoher jemand zusah. Die Zeitung auf dem Küchentisch vor sich ausgebreitet, weinte Aomame die ganze Nacht. Sie weinte lautlos, bis auf gelegentliche Schluchzer, die sich einfach nicht unterdrücken ließen. Tränen liefen über ihre Hände und tropften auf die Zeitung.
    Aomame war an sich kein Mensch, der leicht in Tränen ausbrach. Eher packte sie die Wut. Auf andere oder auf sich selbst. Daher weinte sie nur selten. Doch jetzt, wo der Damm einmal gebrochen war, gab es kein Halten mehr. Seit Tamaki Otsukas Selbstmord hatte sie nicht mehr so lange geweint. Wie viele Jahre war das jetzt her? Sie wusste es nicht mehr. Jedenfalls sehr viele . Damals hatte Aomame unaufhörlich geweint. Tagelang. Ohne ein Wort zu sprechen, ohne aus dem Haus zu gehen. Mitunter hatte sie etwas getrunken, um die Feuchtigkeit nachzufüllen, die sie durch die Tränen verloren hatte, oder war in einen kurzen ohnmachtsähnlichen Schlaf gefallen. Die ganze übrige Zeit waren ihre Tränen unablässig geflossen.
    Ayumi war nicht mehr auf der Welt. Sie war jetzt eine kalte Leiche und wurde vielleicht gerade von der Gerichtsmedizin obduziert. Nach der Obduktion würde man sie wieder zusammennähen und nach einer schlichten Trauerfeier ins Krematorium bringen und verbrennen. Sie würde als Rauch in den Himmel steigen und sich mit den Wolken vermischen. Irgendwann würde sie mit dem Regen zur Erde fallen und irgendwo das Gras wachsen lassen. Namenloses, nichtssagendes Gras. Nie mehr würde Aomame sie lebend zu Gesicht bekommen. Für sie war das eine völlig absurde Vorstellung, die sie als widernatürlich und schrecklich ungerecht empfand.
    Seit es Tamaki Otsuka nicht mehr gab, war Ayumi die Einzige gewesen, für die Aomame so etwas wie freundschaftliche Gefühle gehegt hatte. Leider waren dieser Freundschaft enge Grenzen gesetzt gewesen. Ayumi war Polizistin und Aomame Serienmörderin. Auch wenn sie aus Gewissensgründen und Überzeugung mordete, eine Mörderin blieb eine Mörderin. Vor dem Gesetz war Aomame ohne jeden Zweifel eine Verbrecherin. Sie gehörte auf die Seite der Gejagten und Ayumi auf die der Jäger.
    Deshalb hatte Aomame, obwohl die junge Polizistin sich eine innigere Beziehung gewünscht hätte, sehr verschlossen auf ihre Annäherungsversuche reagiert. Sich auf eine engere Freundschaft mit Ayumi einzulassen wäre zu gefährlich gewesen. Hätte sie Ayumi einen Platz in ihrem Alltag eingeräumt, wären unweigerlich alle möglichen Widersprüche und Ungereimtheiten zutage getreten. Nein, Aomame, die im Grunde ihres Herzens ein sehr ehrlicher und direkter Mensch war, konnte keine aufrichtige zwischenmenschliche Beziehung pflegen, in der sie Geheimnisse vor dem anderen haben oder ihn in wichtigen Dingen belügen musste. Eine solche Situation hätte sie verunsichert, und das konnte sie nicht brauchen.
    Ayumi musste zumindest etwas davon geahnt haben. Musste gespürt haben, dass Aomame ein persönliches Geheimnis hatte,

Weitere Kostenlose Bücher