Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
weite Ferne gerichtet. Ihre Augen hatten nichts Lebendiges. Das verwunderte Tengo besonders. Wo sie doch an jenem Tag, als sie ihn direkt angeschaut hatte, so klar und glänzend gewesen waren.
    Seit sie seine Hand genommen hatte, wusste Tengo, dass in diesem mageren Mädchen eine zähe Kraft steckte, die weit über alles Durchschnittliche hinausreichte. Sie hatte enorm fest zugedrückt, aber daran allein lag es nicht. Geistig schien sie sogar über noch größere Kraft zu verfügen, aber sie war daran gewöhnt, diese Energie vor den anderen Schülern zu verbergen. Auch wenn die Lehrer sie aufriefen, sagte sie nur das Allernotwendigste (bisweilen nicht einmal das), aber ihre Noten in den Klassenarbeiten – sie wurden verlesen – waren nicht schlecht. Tengo vermutete, dass sie, wenn sie gewollt hätte, weit besser hätte sein können. Vielleicht stümperte sie sogar absichtlich in den Klassenarbeiten, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es war denkbar, dass ein Kind in ihrer Situation sich aus Klugheit so verhielt, um die Verletzungsgefahr möglichst gering zu halten: sich so klein und unsichtbar wie möglich machte, um den Alltag einigermaßen unbeschadet zu überstehen.
    Wie schön hätte es sein können, wäre sie ein ganz normales Mädchen gewesen, mit dem er unbekümmert hätte reden können. Vielleicht hätten sie Freundschaft geschlossen. Obwohl das für zehnjährige Jungen und Mädchen ohnehin schon zu den schwierigsten Dingen auf der Welt gehört. Aber irgendeine Gelegenheit zu einem freundschaftlichen Austausch musste sich ja wohl finden lassen. Doch leider fand sie sich nie. Aomame war eben kein normales Mädchen. Sie blieb isoliert, mied die anderen Schüler und wahrte hartnäckig ihr Schweigen. Also beschloss Tengo, lieber heimlich in seiner Phantasie und in seiner Erinnerung mit ihr zusammen zu sein, statt vergeblich eine echte Beziehung zu dem Mädchen erzwingen zu wollen.
    Mit zehn Jahren hatte Tengo noch keine konkrete Vorstellung von Sexualität. Seine Sehnsucht nach Aomame bestand in dem Wunsch, sie würde noch einmal seine Hand nehmen. Dass sie beide allein wären und sie sie fest drücken würde. Und dass sie ihm etwas, ganz egal was, von sich erzählen würde. Ihm mit leiser Stimme die Geheimnisse eines zehnjährigen Mädchens anvertrauen. Und er würde sich bemühen, sie zu verstehen. Vielleicht wäre das ein Anfang. Aber davon, was dieses Etwas sein könnte, hatte Tengo noch keine Ahnung.
    Als im April das fünfte Schuljahr begann, wurden Tengo und das Mädchen auf verschiedene Klassen verteilt. Sie gingen hin und wieder auf dem Schulkorridor aneinander vorbei oder standen zusammen an der Bushaltestelle. Doch das Mädchen schien Tengos Existenz nicht einmal wahrzunehmen. Zumindest glaubte er das. Ohne die kleinste Regung zu zeigen, stand sie neben ihm. Schaute ihn nicht ein einziges Mal an. Ihre Augen waren unverändert glanzlos und ohne Tiefe. Tengo fragte sich, was damals im Klassenzimmer passiert war. Manchmal war ihm, als habe er das Ganze nur geträumt. Als sei es gar nicht wirklich geschehen. Andererseits spürte er noch immer lebhaft diesen außergewöhnlich starken Druck an seiner Hand. Die Welt war voller Rätsel.
    Und ehe Tengo sich’s versah, war Aomame fort. Sie hatte die Schule gewechselt, aber Genaueres war nicht bekannt. Niemand wusste, wohin sie gezogen war, und Tengo war wahrscheinlich der Einzige an der ganzen Schule, den ihr Verschwinden berührte.
    Noch lange danach bereute Tengo sein Verhalten. Genauer gesagt, er bereute seinen Mangel an Verhalten . Ihm fielen Dinge ein, die er ihr unbedingt hätte sagen sollen. Innerlich war ihm ganz klar, dass er mit ihr sprechen wollte, sprechen musste. Im Nachhinein erschien es ihm auch gar nicht so schwierig. Er hätte sie doch eigentlich nur irgendwo abzupassen und etwas zu ihr zu sagen brauchen. Er hätte nur irgendeine Gelegenheit finden und ein bisschen Mut aufbringen müssen. Aber er hatte es nicht geschafft. Und die Gelegenheit für immer verpasst.
    Auch in der Mittelstufe, in der Tengo eine staatliche Schule besuchte, war er in Gedanken noch oft bei Aomame. Er hatte nun regelmäßig Erektionen und dachte auch häufig an sie, wenn er masturbierte. Dabei benutzte er stets die linke Hand, an der er noch immer den Druck ihrer Finger spürte. In seiner Erinnerung war Aomame ein dünnes Mädchen, das noch keinen Busen hatte. Dennoch erregte es ihn, wenn er sie in ihrem Turnzeug vor sich sah.
    Auf der Oberschule verabredete

Weitere Kostenlose Bücher