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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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der Fall Aufsehen.

KAPITEL 4
    Tengo
    Vielleicht sollte ich mir das gar nicht wünschen
    Wo Aomame jetzt wohl gerade war und was sie tat? Ob sie noch immer Anhängerin der Zeugen Jehovas war?
    Besser wäre es, wenn nicht, dachte Tengo. Natürlich stand es jedem frei, einen Glauben zu haben. Es war nichts, in das Tengo ihr hineinreden durfte. Aber soweit er sich erinnerte, hatte es ihr als Mädchen nicht gerade großes Vergnügen bereitet, Zeugin Jehovas zu sein.
    Als Student hatte er einmal im Lager eines Spirituosenhändlers gejobbt. Die Bezahlung war nicht schlecht gewesen, aber er hatte ziemlich schwer schleppen müssen. Wenn er den ganzen Tag dort geschuftet hatte, tat ihm alles weh, und das, obwohl er kräftig gebaut war. Manchmal arbeiteten dort auch zwei junge Männer in seinem Alter, die als Zeugen Jehovas aufgewachsen waren. Beide waren wohlerzogen und sympathisch. Sie arbeiteten stets gewissenhaft, drückten sich nicht vor der Arbeit und beklagten sich nie. Einmal waren sie nach Feierabend zusammen ein Bier trinken gegangen. Die beiden kannten sich seit ihrer Kindheit und waren aus irgendwelchen Gründen gemeinsam aus der Sekte ausgetreten, um endlich ein normales Leben zu führen. Aber soweit Tengo sehen konnte, hatten sie sich bisher noch nicht an die neuen Umstände gewöhnen können. Von Geburt an in den engen Grenzen einer abgeschlossenen Gemeinschaft aufgewachsen, fiel es ihnen schwer, die Regeln eines ausgedehnteren Umfelds zu verstehen und zu akzeptieren. Oftmals waren sie verunsichert und trauten ihrem eigenen Urteil nicht. Ihr Austritt aus der Sekte hatte ihnen zwar ein Gefühl von Freiheit geschenkt, doch zugleich konnten sie ihre Zweifel an der Richtigkeit ihrer Entscheidung nie ganz ablegen.
    Tengo konnte sich eines gewissen Mitgefühls nicht erwehren. Vielleicht hätten die beiden eine bessere Chance gehabt, sich anzupassen, wenn sie ihre frühere Umgebung schon als Kinder verlassen hätten, ehe sich ein deutliches Ego herausgebildet hatte. Aber diese Chance war vertan, und nun beherrschten die Gebote und Wertvorstellungen der Zeugen Jehovas noch immer ihr Leben. Seine Lebensgewohnheiten und sein Bewusstsein aus eigener Kraft zu ändern forderte einen nicht geringen Preis. Die Unterhaltung mit den beiden hatte Tengo an seine Klassenkameradin von damals erinnert. Und er hoffte, dass diese Leiden ihr erspart geblieben waren.
    Nachdem das Mädchen endlich seine Hand losgelassen und das Klassenzimmer schnurstracks und ohne sich einmal umzudrehen verlassen hatte, blieb Tengo eine Zeit lang wie vom Donner gerührt an derselben Stelle stehen. Sie hatte mit solcher Kraft zugedrückt, dass er es noch immer deutlich an seiner linken Hand spürte. Dieses Gefühl verschwand mehrere Tage nicht. Und auch als es mit der Zeit seine Unmittelbarkeit verlor, blieb der Druck ihrer Finger wie eine Art Stempel in seinem Herzen zurück.
    Bald darauf hatte er seine erste Ejakulation. Aus der Spitze seines aufgerichteten Penis kam Flüssigkeit. Sie war klebriger als Urin. Und er verspürte ein leicht schmerzhaftes Pochen. Tengo wusste damals noch nicht, dass es sich um Samenflüssigkeit handelte. Er hatte so etwas bisher noch nie gesehen und war ziemlich verstört. Er war mitten in der Nacht mit feuchter Unterwäsche aus einem Traum aufgewacht (was er geträumt hatte, wusste er nicht mehr). Offenbar geschah hier etwas Ungewöhnliches mit seinem Körper. Doch seinen Vater wagte er nicht um Rat zu bitten, und seine Schulfreunde wollte er auch nicht fragen. Er hatte fast das Gefühl, durch die Hand des Mädchens sei etwas aus ihm hervorgezogen worden.
    Danach kam es nie wieder zu einer Berührung zwischen ihnen. Aomame hielt sich abseits wie bisher, redete mit niemandem und sprach vor den Mahlzeiten mit klarer Stimme das gewohnte seltsame Gebet. Selbst wenn sie direkt an Tengo vorbeiging, verzog sie keine Miene, benahm sich, als sei nie etwas geschehen. Sie schien Tengo nicht einmal wahrzunehmen.
    Tengo hatte jedoch begonnen, Aomame unauffällig, aber aufmerksam zu beobachten, sobald sich eine Gelegenheit ergab. Bei näherem Hinsehen wurde ihm bewusst, dass ihre Gesichtszüge sehr ebenmäßig waren. Zumindest hatte sie ein sehr anziehendes, sympathisches Gesicht. Sie war groß und schlank und trug stets verwaschene Kleidung, die ihr nicht richtig passte. Wenn sie Turnzeug trug, sah man, dass sie noch keinen Busen hatte. Ihre Mimik war mehr als verhalten, nie machte sie auch nur den Mund auf, und ihr Blick schien stets in

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