1Q84: Buch 1&2
hätte einfach so gern gewusst, wie ihr bisheriges Leben verlaufen war, wo sie jetzt lebte, woran sie sich freute und was sie traurig machte. Selbst wenn sie beide sich verändert hatten und die Möglichkeit einer Verbindung zwischen ihnen vielleicht verloren war, hatte sich doch nichts daran geändert, dass sich damals vor langer, langer Zeit in jenem Klassenzimmer dieser bedeutsame Austausch zwischen ihnen abgespielt hatte.
Tengo gab den Sellerie und die Pilze in die Pfanne, drehte das Gas auf höchste Stufe und wendete alles sorgfältig mit einem Bambusspatel, während er die Pfanne leicht hin und her schwenkte und das Gemüse mit Salz und Pfeffer bestreute. Als sie kochten, gab er die abgetropften Shrimps hinzu. Dann salzte und pfefferte er nach. Er goss ein kleines Glas Sake und nach Gefühl etwas Sojasoße an. Zum Schluss verteilte er den Koriander darüber. Alle diese Handgriffe führte Tengo mechanisch und fast ohne nachzudenken aus. Er agierte wie ein Flugzeug, das auf Autopilot geschaltet ist. Außerdem war es kein besonders kompliziertes Gericht. Tengos Hände bewegten sich präzise, aber im Geist war er die ganze Zeit bei Aomame.
Als Garnelen und Gemüse gar waren, lud er alles auf einen großen Teller. Er nahm sich ein frisches Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich an den Küchentisch und verzehrte in Gedanken versunken das noch dampfende Gericht.
Während der letzten Monate habe ich mich anscheinend doch etwas verändert, dachte er. Offenbar bin ich dabei, mich geistig zu entwickeln. Mit dreißig wird es vielleicht auch allmählich Zeit. Die halb ausgetrunkene Bierdose in der Hand, schüttelte Tengo selbstironisch den Kopf. Großartig. Wie lange er bei diesem Tempo wohl brauchen würde, bis aus ihm ein normal gereifter Erwachsener würde?
Auf alle Fälle schien seine Arbeit an Die Puppe aus Luft diesen inneren Reifeprozess in Gang gesetzt zu haben. Durch das Nacherzählen von Fukaeris Geschichte mit seinen Worten hatte sich Tengos Bedürfnis verstärkt, den Geschichten in ihm die Gestalt eigener Werke zu geben. Es war ein neuer Antrieb in ihm entstanden, der offenbar auch die Sehnsucht nach Aomame einschloss. Aus irgendeinem Grund musste er ständig an sie denken. Bei jeder Gelegenheit zog es ihn in das Klassenzimmer an jenem Nachmittag vor zwanzig Jahren. Es war, als stünde er an einem Strand und seine Füße würden beständig vom Sog der zurückströmenden Brandung mitgerissen.
Am Ende ließ Tengo die Hälfte seines zweiten Biers und seines Garnelengemüses stehen. Den Rest des Biers goss er weg, das Essen gab er auf einen kleinen Teller und stellte es zugedeckt in den Kühlschrank.
Anschließend setzte er sich an den Schreibtisch, schaltete sein Textverarbeitungsgerät ein und rief seine angefangene Seite auf.
Tengo war überzeugt, dass es keinen großen Sinn hätte, die Vergangenheit umzuschreiben. Seine Freundin hatte völlig recht. Ganz gleich wie eifrig und genau man die Vergangenheit bearbeitete, am gegenwärtigen Zustand seines Ichs würde man damit nichts ändern. Die Zeit besaß die Kraft, künstlich herbeigeführte Veränderungen vollständig aufzuheben. Zweifellos würde sie jede nachträgliche Korrektur überschreiben und den Fluss wieder in sein ursprüngliches Bett lenken. Selbst wenn man ein paar Details mehr oder weniger ändern würde, die Person Tengo würde letzten Endes immer Tengo bleiben.
Was er tun musste, war, an der Wegkreuzung der Gegenwart stehenzubleiben, von dort aus die Vergangenheit genau in Augenschein zu nehmen und dann entsprechend seiner veränderten Vergangenheit seine Zukunft zu gestalten. Einen anderen Weg gab es nicht.
Buß’ und Reu’
Knirscht das Sündenherz entzwei
Dass die Tropfen meiner Zähren
Angenehme Spezerei
Treuer Jesu, dir gebären.
Diese Passage aus der Matthäus-Passion hatte Fukaeri ihm bei ihrer letzten Begegnung vorgesungen. Das Werk gefiel ihm. Er hatte die Platte immer wieder gehört und sich die Übersetzung angesehen. Die Arie über die »Salbung in Bethanien« gehörte zum Anfangsteil. Als Jesus in Bethanien das Haus eines Kranken aufsuchte, goss eine Frau kostbares duftendes Wasser auf sein Haupt. Die anwesenden Jünger schalten sie ob der unnützen Vergeudung. Man hätte es doch verkaufen und den Erlös den Armen geben können. Aber Jesus ermahnte seine aufgebrachten Jünger. »Sie hat ein gut Werk an mir getan«, sagte er. »Sie hat es getan, dass man mich begraben wird.«
Die Frau wusste, dass Jesus in naher Zeit
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