Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Shorts und Tanktop ziellos durch die morgengrauen Straßen. Jemand sprach sie an, aber sie drehte sich nicht einmal um. Als sie Durst bekam, ging sie in einen auch nachts geöffneten Supermarkt, kaufte eine große Packung Orangensaft und trank sie auf der Stelle aus. Anschließend kehrte sie in ihre Wohnung zurück und weinte eine Weile. Ich habe Ayumi so gern gehabt, dachte sie. Viel lieber, als mir bewusst war. Warum habe ich ihr nicht erlaubt, mich zu berühren, als sie es sich gewünscht hat?
    Auch am nächsten Tag stand in der Zeitung noch ein Artikel mit der Überschrift »Polizistin in Hotel in Shibuya erwürgt«. Die Polizei setzte alle Hebel in Bewegung, um den flüchtigen Mann ausfindig zu machen. Dem Zeitungsbericht zufolge waren Ayumis Kollegen ratlos. Sie sei eine wahre Frohnatur, bei allen beliebt, verantwortungsbewusst, zupackend und überhaupt eine ausgezeichnete Polizistin gewesen. Angefangen bei ihrem Vater und ihrem älteren Bruder seien mehrere Verwandte von ihr bei der Polizei beschäftigt, und der Familienzusammenhalt sei sehr stark. Niemand könne begreifen, wie es zu so etwas habe kommen können.
    Keiner weiß davon, dachte Aomame. Aber ich weiß Bescheid. Ayumi fühlte sich wie ausgedörrt. In ihr sah es aus wie in einer Wüste an einem entlegenen Teil der Erde. Auch wenn sie den Boden noch so stark bewässerte, jede Feuchtigkeit wurde sofort aufgesogen. Nicht ein Tropfen blieb übrig. Kein Leben konnte dort Wurzeln schlagen. Nicht einmal Vögel flogen über dieser Wüste. Allein Ayumi wusste, was diese trockene Ödnis in ihr hervorgerufen hatte. Nein, wahrscheinlich wusste sie selbst nicht genau, woher sie wirklich kam. Der Hauptgrund war zweifellos die verkehrte Sexualität, die die Männer in ihrem Umfeld ihr aufgezwungen hatten. Um die tödliche Dürre zu ertragen, musste sie sich selbst ständig neu erschaffen. Doch jedes Mal, wenn sie ein erfundenes dekoratives Selbst abgeworfen hatte, blieb nur ein abgrundtiefes Nichts übrig, das sie aussaugte. Und sosehr sie sich auch bemühte zu vergessen, dieses Nichts suchte sie regelmäßig heim. An einsamen verregneten Nachmittagen oder wenn sie aus einem Alptraum erwachte. In solchen Momenten brauchte sie unbedingt Sex mit irgendjemandem, egal mit wem .
    Aomame nahm die HK 4 aus dem Schuhkarton, lud mit geübten Handgriffen das Magazin, entsicherte, zog den Schlitten zurück, beförderte eine Patrone in die Kammer, spannte den Hahn, umfasste die Pistole fest mit beiden Händen und zielte auf einen Punkt an der Wand. Der Lauf bewegte sich nicht. Auch ihre Hände zitterten nicht. Aomame hielt den Atem an und konzentrierte sich, dann atmete sie tief aus. Sie ließ die Pistole sinken, sicherte sie und wog sie in der Hand. Sie betrachtete den matten Glanz der Waffe, die so etwas wie ein Teil ihres Körpers geworden war.
    Ich muss meine Gefühle beherrschen, ermahnte sich Aomame. Selbst wenn ich Ayumis Onkel und ihren älteren Bruder jetzt bestrafe, kapieren sie doch gar nicht, wofür sie bestraft werden. Egal, was ich tue, es bringt Ayumi nicht zurück. Es ist furchtbar, aber so etwas musste früher oder später passieren. Sie ist langsam, aber unaufhaltsam auf einen tödlichen Strudel zugetrieben. Auch wenn ich mutiger gewesen wäre und ihr mehr Wärme entgegengebracht hätte, hätte es eine Grenze gegeben. Hör auf zu weinen. Du musst dich zusammenreißen. Den Regeln Vorrang vor dir selbst geben, darauf kommt es an. Wie Tamaru gesagt hat.
    Eines Morgens, fünf Tage nach Ayumis Tod, meldete sich der Pager. Aomame setzte gerade in der Küche Kaffeewasser auf und hörte die Nachrichten im Radio. Das Gerät lag auf dem Tisch. Eine unbekannte Nummer erschien auf dem kleinen Display. Zweifellos eine Botschaft von Tamaru. Aomame suchte ein öffentliches Telefon in der Nähe auf und wählte die Nummer. Beim dritten Läuten hob Tamaru ab.
    »Bist du bereit?«, fragte er.
    »Natürlich«, antwortete Aomame.
    »Nachricht von Madame: heute Abend, 19 Uhr, Hotel Okura, Foyer des Hauptgebäudes. Du sollst dich auf deine übliche Aufgabe einstellen. Es tut ihr leid, dass das so kurzfristig kommt, aber es ging nicht anders.«
    »Heute Abend 19 Uhr, Hotel Okura, Foyer Hauptgebäude«, wiederholte Aomame mechanisch.
    »Ich würde dir Glück wünschen, aber nützen würde dir das auch nichts.«
    »Weil du nicht auf das Glück vertraust.«
    »Wie sollte ich auch, wo es mir doch noch nie begegnet ist«, sagte Tamaru.
    »Du brauchst mir nichts zu wünschen. Stattdessen

Weitere Kostenlose Bücher