1Q84: Buch 1&2
und ihrer trübsinnigen Vergangenheit weinte sie ohnehin keine Träne nach.
Ein Reset meines Lebens, dachte sie, vielleicht habe ich mir genau das ersehnt.
Nur ungern aufgegeben hätte sie jedoch – seltsamerweise – ihre kümmerlichen Brüste. Von ihrem zwölften Lebensjahr an hatte Aomame unablässig mit ihrer Form und Größe gehadert. Und sich oftmals gefragt, ob ihr Leben nicht unbeschwerter verlaufen wäre, wenn sie etwas größere Brüste gehabt hätte. Doch nun, wo sie tatsächlich die Gelegenheit (und sogar eine gewisse Rechtfertigung) hatte, sie zu verändern, spürte sie, dass sie das gar nicht wollte. Ihr Busen konnte ruhig so bleiben. Er war genau richtig.
Sie umfasste ihre Brüste durch das Tanktop. Sie fühlten sich vertraut an, wenn auch ein bisschen wie ungleichmäßig aufgegangener Brötchenteig. Seltsamerweise war die Größe links und rechts unterschiedlich. Aomame zuckte mit den Schultern. Und wenn schon, dachte sie. Dafür sind es meine .
Und was wird mir außer meinen Brüsten bleiben?
Natürlich die Erinnerung an Tengo und daran, wie sich seine Hand angefühlt hat. Das Beben meines Herzens. Das brennende Verlangen, mit ihm zu schlafen. Selbst wenn er inzwischen ein ganz anderer Mensch wäre, könnte nichts und niemand die Liebe zu Tengo aus mir herausreißen. Das ist der größte Unterschied zwischen Ayumi und mir, dachte Aomame. Es ist nicht das Nichts, das den Kern meines Wesens ausmacht. Auch keine Ödnis, der jede Wärme fehlt. Der Kern meiner Existenz ist die Liebe . Ich liebe diesen zehnjährigen Jungen namens Tengo noch immer. Seine Stärke, seine Klugheit und seine Güte. Er ist nicht hier . Aber ein Körper, der nicht anwesend ist, kann nicht verfallen, und ein nicht gegebenes Versprechen kann nicht gebrochen werden.
Der dreißigjährige Tengo hat natürlich keine echte Realität für sie. Er ist sozusagen nicht mehr als eine Hypothese. Entspringt in jeder Hinsicht nur ihrer Phantasie, in der er sich seine Stärke, Klugheit und Güte bewahrt hat. Und über die starken Arme, die breite Brust und das ansehnliche Geschlechtsteil eines Erwachsenen verfügt. Er ist immer bei ihr, wenn sie es sich wünscht. Nimmt sie fest in seine Arme, streicht ihr übers Haar und küsst sie. Der Raum, in dem die beiden sich aufhalten, ist stets dunkel, und Aomame kann seine Gestalt nicht sehen. Nur sein gütiger Blick ist auch im Dunkeln für sie sichtbar. Sie schaut in seine Augen und erkennt in ihnen die Welt, wie er sie sieht.
Dass Aomame hin und wieder, wenn sie es nicht mehr aushalten konnte, mit anderen Männern schlief, lag vielleicht daran, dass sie das Wesen Tengos, das sie in sich selbst herangezogen hatte, möglichst rein erhalten wollte. Vielleicht versuchte sie sich durch den ungehemmten Geschlechtsverkehr mit Fremden von einem Verlangen zu befreien, das sie gefangen hielt. Sie wollte, dass die Zeit, die sie nach dieser Befreiung in jener stillen verborgenen Welt allein mit Tengo verbrachte, durch nichts beeinträchtigt wurde. Das war wohl der Grund.
Am Nachmittag verbrachte Aomame mehrere Stunden damit, an Tengo zu denken. Sie sah von ihrem kleinen Balkon aus in den Himmel, lauschte dem Rauschen des Verkehrs und nahm hin und wieder ein Blatt des erbarmungswürdigen Gummibaums zwischen die Finger. Keiner der Monde war zu sehen. Bis sie aufgingen, würde es noch einige Stunden dauern. Wo ich wohl morgen um diese Zeit sein werde?, überlegte Aomame. Sie hatte keine Ahnung. Verglichen mit der Tatsache, dass es Tengo gab, war das ohnehin völlig unwichtig.
Ein letztes Mal goss Aomame ihren Gummibaum. Danach legte sie die Sinfonietta von Janáček auf. Sie hatte sich sämtlicher Schallplatten entledigt und nur diese eine bis zum Schluss aufgehoben. Sie lauschte mit geschlossenen Augen. Und stellte sich vor, wie der Wind über die böhmischen Wiesen strich. Wie herrlich wäre es, wenn Tengo und sie bis in unendliche Ferne über diese Wiesen laufen könnten. Natürlich würden sie einander an den Händen halten. Nur der Wind würde wehen und das weiche grüne Gras mit seiner Berührung lautlos zum Schwanken bringen. Ganz deutlich spürte Aomame die Wärme von Tengos Hand. Wie bei einem Happy End im Film wurde die Szene langsam ausgeblendet.
Aomame rollte sich auf ihrem Bett zusammen und schlief etwa eine halbe Stunde. Es war ein Schlaf, der ohne Träume auskam. Als sie erwachte, standen die Zeiger der Uhr auf halb fünf. Im Kühlschrank waren noch Eier, Schinken und Butter, und sie
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