1Q84: Buch 1&2
Aber warum war das für sie so unmöglich? Was waren die Umstände? Und was bedeutete »verlorengegangen«? In ihm erwuchs die Vorstellung, dass Kyoko Yasuda vielleicht bei einem Unfall schwer verletzt worden war oder eine unheilbare Krankheit hatte. Oder ihr Gesicht durch Gewalteinwirkung furchtbar entstellt war. Er sah sie in einem Autositz, sie hatte einen Körperteil verloren und war völlig mit Verbandszeug umwickelt, sodass sie sich nicht bewegen konnte. Dann sah er sie in einem Keller wie einen Hund an einer dicken Kette liegen. Allerdings schienen ihm diese Möglichkeiten selbst ziemlich abenteuerlich.
Kyoko Yasuda (er dachte nun mit ihrem vollen Namen an sie) hatte ihren Mann so gut wie nie erwähnt. Tengo hatte keine Ahnung, welchen Beruf er ausübte, wie alt er war, wie er aussah, ob er dick war oder dünn, groß oder klein, ansehnlich oder eher nicht und ob die Ehe gut war oder schlecht. Soweit Tengo verstanden hatte, hatte es ihr materiell an nichts gefehlt (offenbar führte sie ein Leben im Überfluss), nur die Häufigkeit, mit der sie und ihr Mann Sex hatten, schien ihr nicht ausgereicht zu haben. Vielleicht hatte es auch an der Qualität gelegen. Doch das waren letztlich nicht mehr als Vermutungen. Sie hatten an ihren Nachmittagen im Bett über alles Mögliche gesprochen, aber dieses Thema hatten sie nie auch nur angeschnitten. Außerdem war Tengo auch nicht sonderlich erpicht darauf gewesen, etwas über ihren Mann zu erfahren. Er hatte es vorgezogen, nicht zu wissen, was für einem Mann er die Frau wegnahm, und hatte das auch noch für eine Art von Anstand gehalten. Doch angesichts dieser Entwicklungen bereute er, Kyoko nie nach ihm gefragt zu haben (wahrscheinlich hätte sie ihm sogar ziemlich offen geantwortet). Ob der Mann extrem eifersüchtig und besitzergreifend war? Neigte er zur Gewalttätigkeit?
Tengo versuchte sich in seine Lage zu versetzen. Wie hätte er sich an seiner Stelle gefühlt? Jemand hatte eine Frau und zwei kleine Kinder und wollte ein ganz normales, glückliches Familienleben führen. Aber dann kam heraus, dass die Ehefrau einmal in der Woche mit einem anderen Mann schlief. Einem Mann, der zehn Jahre jünger war. Und das seit einem Jahr. Was würde er denken? Welche Gefühle würden ihn beherrschen? Heftige Wut, tiefe Verzweiflung, grenzenlose Traurigkeit, kalte Verachtung, ein echtes Gefühl von Verlust oder eine wilde Mischung aus allem, die sich nicht in ihre Bestandteile auflösen ließ?
Aber alles Grübeln half nicht, Tengo konnte sich kein Bild davon machen, wie er selbst empfinden würde. Doch während er darüber spekulierte, musste er daran denken, wie seine Mutter in ihrem weißen Unterkleid den unbekannten jungen Mann an ihrer Brust saugen ließ. Ihre Brust war voll, die Warze groß und steif. Auf ihrem Gesicht lag ein geistesabwesendes, sinnliches Lächeln. Ihr Mund war halb geöffnet, die Augen geschlossen. Ihre leicht bebenden Lippen erinnerten an eine feuchte Vagina. Und Tengo lag schlafend im selben Raum. Es war, als würde der Kreis eines Karmas sich schließen. Der geheimnisvolle junge Mann war Tengo, und die Frau, die er umarmte, Kyoko Yasuda. Die Konstellation war die gleiche, nur die Personen waren ausgetauscht worden. Heißt das, fragte sich Tengo, ich verkörpere mit meinem Leben diese latent in mir vorhandenen Bilder? Und mein Handeln ist nicht mehr als ein Abklatsch davon? Wie viel Verantwortung trage ich daran, dass Kyoko »verlorengegangen« ist?
Tengo konnte nicht einschlafen. Unablässig hatte er die Stimme des Mannes namens Yasuda im Ohr. Die Andeutungen, die er gemacht hatte, wogen schwer, und seine Worte hatten eine seltsame Plastizität gehabt. Er dachte an Kyoko Yasuda. Sah ihr Gesicht, ihren Körper bis in jede Einzelheit vor sich. Das letzte Mal hatte er sie am Freitag vor zwei Wochen gesehen. Wie immer hatten sie sich ausgiebig geliebt. Doch nach dem Anruf ihres Mannes kam es ihm vor, als hätte sich diese Begegnung in fernster Vergangenheit ereignet. Wie eine historische Szene.
In seinem Regal standen mehrere LPs, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, um sie im Bett mit ihm zu hören. Alles sehr alte Jazzplatten. Louis Armstrong, Billie Holiday (auch hier mit Barney Bigard als Begleitung), Duke-Ellington-Aufnahmen aus den vierziger Jahren. Sie hatte sie oft gehört, aber pfleglich behandelt. Die Hüllen waren etwas verblichen, aber die Platten waren wie neu. Als Tengo eine in die Hand nahm und betrachtete, wuchs in ihm allmählich die
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