1Q84: Buch 1&2
nichts, das er dagegen hätte tun können.
Aber er wusste, dass es Zeit war, den alten Mann einmal zu besuchen. Er verspürte nicht die geringste Lust dazu und wäre am liebsten auf der Stelle umgekehrt und wieder nach Hause gefahren. Aber nun hatte er schon die Hin- und Rückfahrkarten für den normalen Zug und den Express in der Tasche. Also ließ er den Dingen ihren Lauf.
Er stand auf, zahlte die Restaurantrechnung, stellte sich auf den Bahnsteig und wartete auf den Express nach Tateyama. Noch einmal blickte er sich argwöhnisch um, konnte aber niemanden entdecken, der ein »Kundschafter« hätte sein können. Um ihn herum waren nur fröhliche Familien, die das Wochenende am Meer verbringen wollten. Er nahm die Sonnenbrille ab, steckte sie in die Tasche und schob seine Baseballkappe zurück. Das würde ja sowieso nichts helfen. Wenn sie ihn beobachten wollten, bitte schön, sollten sie doch. Also, ich fahre jetzt nach Chiba in ein Kaff am Meer und besuche meinen demenzkranken Vater. Vielleicht erinnert er sich noch daran, dass er einen Sohn hat, vielleicht auch nicht. Beim letzten Mal war er sich schon ziemlich unsicher. Wahrscheinlich hat sein Zustand sich inzwischen verschlechtert. Seine Demenz wird immer mehr voranschreiten, eine Heilung gibt es nicht. So hat man es mir damals gesagt. Es ist wie bei einem Zahnrad, das sich nur vorwärts bewegt.
Das war alles, was Tengo über Demenz wusste.
Als der Zug den Bahnhof verließ, zog er das mitgebrachte Taschenbuch hervor und las. Es war eine Anthologie mit Kurzgeschichten zum Thema Reise. Eine davon handelte von einem jungen Mann, der in eine Stadt kommt, die von Katzen beherrscht wird. »Die Stadt der Katzen« hieß sie. Es war eine phantastische Geschichte, geschrieben von einem deutschen Autor, dessen Namen er noch nie gehört hatte. Laut Anmerkung stammte sie aus der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg.
Dieser junge Mann also reiste allein, sein einziges Gepäckstück war eine Aktentasche. Ein bestimmtes Ziel hatte er nicht. Er stieg einfach in einen Zug, und wenn es ihm irgendwo gefiel, stieg er aus. Er nahm sich eine Unterkunft, besichtigte die Orte, blieb, solange er wollte, und wenn er genug hatte, stieg er wieder in den Zug. Jeden Urlaub verbrachte er auf diese Weise.
Eines Tages sah er durch sein Zugfenster einen schönen Fluss, der sich durch sanfte grüne Hügel schlängelte, zu deren Füßen eine kleine, beschaulich wirkende Stadt lag, in die eine alte Steinbrücke hineinführte. Der Anblick verlockte ihn sehr. Bestimmt konnte man hier guten Flussfisch essen. Als der Zug hielt, nahm der junge Mann seine Tasche und stieg als Einziger aus. Kaum war er draußen, fuhr der Zug auch schon weiter.
Es gab keine Bahnbeamten. Offenbar war es eine sehr ruhige Station. Der junge Mann überquerte die Steinbrücke und ging in die Stadt. Dort war es mucksmäuschenstill . Keine Menschenseele zu sehen. Alle Geschäfte waren geschlossen, auch im Rathaus war niemand. Nicht einmal der Empfang des einzigen Hotels war besetzt. Auch auf sein Läuten erschien niemand. Der Ort schien menschenleer zu sein. Oder vielleicht hielten sämtliche Bewohner Mittagsschlaf? Aber es war erst halb elf am Vormittag. Viel zu früh. Oder vielleicht hatten die Menschen aus irgendeinem Grund die Stadt verlassen. Jedenfalls würde vor dem nächsten Morgen kein Zug kommen, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Nacht hier zu verbringen. Der junge Mann vertrieb sich die Zeit, indem er ziellos umherschlenderte.
In Wahrheit jedoch war er in die Stadt der Katzen gelangt. Als die Sonne unterging, strömten sie über die Steinbrücke herein. Alle möglichen Arten mit allen möglichen Zeichnungen. Sie waren viel größer als gewöhnliche Katzen, aber es handelte sich eindeutig um Katzen. Bei ihrem Anblick erschrak der junge Mann so sehr, dass er hastig auf den Glockenturm in der Mitte der Stadt kletterte und sich dort versteckte. Die Katzen öffneten, wie sie es offenbar gewohnt waren, ihre Geschäfte oder begaben sich auf ihre Plätze im Rathaus und nahmen ihre jeweilige Arbeit auf. Einige Zeit später strömte abermals eine große Zahl von Katzen über die Brücke in die Stadt. Sie machten Einkäufe in den Geschäften, erledigten amtliche Formalitäten im Rathaus und speisten im Hotelrestaurant. Sogar Bier tranken sie in einer Kneipe. Einige der angeheiterten Zecher sangen, eine Katze spielte Akkordeon, und andere tanzten dazu. Katzen brauchen kaum Licht, denn sie können
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