1Q84: Buch 1&2
sich eine beispiellose Stille über die Umgebung. Die Sonne ging unter. Es war die Zeit, in der die Katzen kamen. Der junge Mann wusste, dass er verloren war. Endlich begriff er, dass er gar nicht in der Stadt der Katzen war. Er war an dem Ort, an dem er sich verlieren sollte. Der Ort war nicht von dieser Welt, er existierte nur für ihn. Und nie mehr würde an dem Bahnhof ein Zug halten, um ihn in seine ursprüngliche Welt zurückzubringen.
Tengo las die Geschichte zweimal. Der Satz von dem Ort, an dem er sich verlieren sollte , hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er klappte das Buch zu und blickte unverwandt auf die vor dem Fenster vorüberziehende hässliche Industrielandschaft an der Küste. Die Flammen aus den Ölraffinerien, gewaltige Gastanker, dicke Schornsteine, die in die Höhe ragten wie Langstreckenraketen. Die Schlangen von schweren Trucks und Tanklastwagen auf der Straße. Die Szenerie war weit entfernt von der idyllischen Landschaft, in der die Stadt der Katzen lag. Der Küstenstreifen war wie ein ominöses anderweltliches Reich, das das Leben in der großen Metropole aufrechterhielt.
Tengo schloss die Augen und versuchte sich den Ort vorzustellen, an dem Kyoko Yasuda sich selbst verloren hatte und nun gefangen war. Auch dort hielt kein Zug. Es gab kein Telefon und auch keine Post. Am Tag herrschte völlige Einsamkeit, und in der Dunkelheit der Nacht suchten die Katzen hartnäckig nach ihr. Und das wiederholte sich endlos. Unversehens war Tengo auf seinem Sitz eingenickt. Er schlief nicht lange, aber tief, und als er erwachte, war er in Schweiß gebadet. Der Zug fuhr nun die hochsommerliche Minami-Boso-Küste entlang.
In Tateyama stieg er in einen Bummelzug um, und als er in Chikura ausstieg, umfing ihn sogleich der vertraute Geruch nach Meer und Strand. Alle Menschen, denen er auf der Straße begegnete, schienen braungebrannt. Vom Bahnhof nahm er sich ein Taxi zum Sanatorium. An der Rezeption nannte er seinen Namen und den seines Vaters.
»Hatten Sie Ihren Besuch angekündigt?«, fragte ihn die Krankenschwester etwas streng. Sie war eine kleine Frau in mittlerem Alter und trug eine Brille mit Goldrand. Ihr kurzes Haar war bereits von einigen weißen Strähnen durchzogen. Der Ring an ihrem kurzen Ringfinger wirkte, als habe sie ihn passend zu ihrer Brille gekauft. »Tamura« stand auf ihrem Namensschild.
»Nein, die Idee ist mir erst heute Morgen gekommen, und ich habe mich spontan in den Zug gesetzt«, sagte Tengo aufrichtig.
Die Schwester musterte ihn mit einem leicht empörten Blick. »Wenn man jemanden besuchen möchte, sollte man sich vorher anmelden. Es gibt hier einen festen Tagesablauf, außerdem haben die Patienten auch Termine.«
»Entschuldigen Sie. Das habe ich nicht gewusst.«
»Wann haben Sie Ihren Vater das letzte Mal besucht?«
»Vor zwei Jahren.«
»Vor zwei Jahren«, wiederholte die Schwester, während sie mit einem Kugelschreiber in der einen Hand die Besucherliste durchging. »Das heißt, Sie haben ihn seit zwei Jahren nicht gesehen?«
»Ja«, sagte Tengo.
»Nach unseren Unterlagen sind Sie Herrn Kawanas einziger Angehöriger.«
»Das stimmt.«
Die Schwester legte die Liste auf die Theke und sah Tengo kurz ins Gesicht, sagte aber nichts mehr. In ihrem Blick lag kein Vorwurf. Sie vergewisserte sich nur. Tengo schien keine besondere Ausnahme zu sein.
»Ihr Vater ist gerade in einer Reha-Gruppe. Sie ist in etwa dreißig Minuten zu Ende. Danach können Sie ihn sehen.«
»In welchem Zustand ist mein Vater?«
»Körperlich ist er gesund. Er hat keine besonderen Probleme. Mit dem anderen geht es auf und ab. Da gibt es immer solche und solche Tage«, sagte die Schwester, den Zeigefinger leicht an die Schläfe gelegt. »Da müssen Sie sich schon mit eigenen Augen überzeugen.«
Tengo bedankte sich. Er setzte sich auf ein Sofa in der Lounge neben dem Eingang, das einen altertümlichen Geruch verströmte, und vertrieb sich die Zeit, indem er weiter in seinem Taschenbuch las. Mitunter wehte eine Brise den Geruch des Meeres zu ihm herüber, und die Äste der Kiefern rauschten erfrischend. In ihnen lebten offenbar zahlreiche Zikaden, die, als wüssten sie um das nahende Ende des Sommers, noch einmal schrillten, so laut sie konnten. Es klang, als würden sie die Kürze der ihnen noch bleibenden Lebenszeit beklagen.
Nicht lange, und die bebrillte Schwester Tamura teilte Tengo mit, die Reha-Maßnahme sei nun beendet, und er könne seinen Vater sehen.
»Ich bringe Sie auf sein
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