1Q84: Buch 1&2
inwieweit die Massenmedien die Wahrheit schrieben und welche Schachzüge die geheimnisvolle Sekte der Vorreiter unternahm – all das kümmerte ihn kaum. Wenn er mit dem Boot, in dem er zufällig saß, Hals über Kopf einen Wasserfall hinunterstürzte, konnte er nichts dagegen tun, nur stürzen. Kein noch so verzweifelter Versuch würde den Lauf des Flusses ändern.
Natürlich machte er sich Sorgen um Kyoko Yasuda. Er hatte keine Ahnung, was vorgefallen war, aber hätte er irgendetwas tun können, er hätte keine Mühe gescheut. Doch was immer die Probleme waren, vor denen sie stand, es lag nicht in seiner Macht, ihr zu helfen. Praktisch konnte er gar nichts tun.
Das Zeitunglesen hatte er völlig eingestellt. Die Welt hatte sich zu einem Ort entwickelt, der nichts mit ihm zu tun hatte. Lethargie umgab ihn wie eine persönliche Ausdünstung. Der Anblick von Die Puppe aus Luft in den Schaufenstern verdross ihn, also hielt er sich von allen Buchhandlungen fern. Er pendelte nur noch auf direktem Weg zwischen seiner Wohnung und der Schule hin und her. Alle Welt hatte bereits Ferien, aber da die Yobiko spezielle Sommerkurse veranstaltete, gab es in dieser Zeit mehr zu tun als sonst, ein Umstand, den Tengo sehr begrüßte. Beim Unterricht brauchte er wenigstens an nichts anderes zu denken als an mathematische Aufgaben.
Auch die Arbeit an seinem Roman stagnierte. Selbst wenn er sich an den Schreibtisch setzte und das Textverarbeitungsgerät einschaltete, brachte er nichts zustande. Jeder Gedanke, den er zu fassen versuchte, wurde von Fetzen aus den Gesprächen mit Kyoko Yasudas Mann oder Ushikawa verdrängt. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren.
MEINE FRAU IST VERLORENGEGANGEN. SIE WIRD NIE MEHR ZU IHNEN KOMMEN, GANZ GLEICH IN WELCHER FORM .
Hatte Kyoko Yasudas Mann gesagt.
WENN SIE MIR EINEN VERGLEICH AUS DER GRIECHISCHEN MYTHOLOGIE GESTATTEN, KÖNNTE MAN VIELLEICHT SAGEN, IHR HABT EINE ART BÜCHSE DER PANDORA GEÖFFNET, AUS DER ALLES MÖGLICHE ENTWICHEN IST. MEINER EINSCHÄTZUNG NACH ENTSPRICHT DAS IN ETWA DER AUFFASSUNG MEINES KLIENTEN. SIE UND FUKAERI SIND SICH SOZUSAGEN ZUFÄLLIG BEGEGNET UND WURDEN ZU EINER UNVERMUTET MÄCHTIGEN VERBINDUNG. IHR HABT EUCH GEGENSEITIG ÄUSSERST WIRKUNGSVOLL ERGÄNZT, DEM JEWEILS ANDEREN DEN TEIL HINZUGEFÜGT, DER IHM FEHLTE .
Hatte Ushikawa gesagt.
Beide Äußerungen waren extrem verschwommen und in ihrem Kern dunkel und ausweichend. Doch etwas hatten sie gemeinsam: Sie schienen vermitteln zu wollen, dass Tengo irgendeine Kraft, von der er selbst nichts wusste, freigesetzt hatte und diese Kraft nun einen konkreten Einfluss auf die Welt ausübte (offenbar sogar eine recht unschöne Art von Einfluss).
Tengo schaltete das Textverarbeitungsgerät aus, setzte sich auf den Boden und starrte eine Weile das Telefon an. Er brauchte mehr Hinweise, mehr Teile von dem Puzzle. Aber niemand gab ihm welche. Freigebigkeit war eine Eigenschaft, an der auf dieser Welt ein (chronischer) Mangel herrschte.
Er überlegte, ob er jemanden anrufen sollte, Komatsu, Professor Ebisuno oder Ushikawa. Aber dazu verspürte er nicht die geringste Lust. Er hatte ihre nutzlosen sybillinischen Andeutungen gründlich satt. Sobald er einen von ihnen aufforderte, ihm einen Hinweis zur Lösung des Rätsels zu geben, speisten sie ihn nur wieder mit einem neuen Rätsel ab. Er konnte dieses Spiel nicht bis in alle Ewigkeit fortsetzen. Fukaeri und Tengo waren ein unschlagbares Paar . Reichte das nicht? Sie waren wie Sonny und Cher. Das ultimative Duo. The Beat Goes On.
Die Tage vergingen. Tengo wurde es bald müde, in seiner Wohnung zu sitzen und zu warten, dass etwas passierte. Also steckte er seine Brieftasche und ein Taschenbuch ein, setzte eine Baseballkappe und eine Sonnenbrille auf und verließ das Haus. Mit forschen Schritten ging er zum Bahnhof, zeigte seine Monatskarte und stieg in einen Expresszug der Chuo-Linie. Wohin er fahren wollte, wusste er noch nicht. Er war einfach in die nächstbeste Bahn gestiegen. Sie war leer. Tengo hatte an diesem Tag keine Verpflichtungen. Er besaß die Freiheit, zu fahren, wohin er wollte, und zu tun, was er wollte (oder auch gar nichts zu tun). Es war zehn Uhr an einem windstillen Sommermorgen, die Sonne schien kräftig.
Er nahm sich vor, darauf zu achten, ob ihm einer der »Kundschafter« folgte, von denen Ushikawa gesprochen hatte. Also blieb er auf dem Weg zum Bahnhof mehrmals abrupt stehen und drehte sich blitzschnell um. Aber niemand schien ihn zu beschatten.
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