1Q84: Buch 1&2
verlieren. Aber das ging sie nichts an. Das, was Aomame dem Mann nehmen musste, war mehr als sein Augenlicht.
Während der Mann, das Gesicht in die Hände gelegt, seine Augen an das eindringende Licht zu gewöhnen versuchte, saß Aomame auf dem Sofa und beobachtete ihn. Nun war sie an der Reihe, ihr Gegenüber genau in Augenschein zu nehmen.
Er war ein großer Mann. Nicht fett. Nur groß. Kräftig und breit gebaut, von imposanter Statur. Allem Anschein nach musste er sehr stark sein. Die alte Dame hatte sie ja schon darauf vorbereitet, dass es sich um einen großen Mann handelte, aber dass er so groß war, hatte Aomame nicht geahnt. Aber es gab natürlich auch keinen Grund, weshalb das Oberhaupt einer Religionsgemeinschaft ein Riese sein sollte. Bei der Vorstellung, dass dieser riesige Mann zehnjährige Mädchen vergewaltigte, verzog sie unwillkürlich das Gesicht. Sie sah vor sich, wie der Mann sich nackt auszog und über den Körper eines kleinen Mädchens herfiel. Es hätte mit Sicherheit keinen Widerstand leisten können. Selbst für eine erwachsene Frau wäre das schwierig gewesen.
Der Mann trug eine Art dünne Jogginghose, die an den Knöcheln von einem Gummizug zusammengehalten wurde, und ein langärmliges, weites Hemd aus einem leicht seidig schimmernden Stoff. Es war schlicht und von oben bis unten durchzuknöpfen. Die beiden obersten Knöpfe standen offen. Hemd und Hose waren vermutlich weiß oder cremefarben. Es war kein Schlafanzug, aber die Art von Kleidung, in der man es sich zu Hause – oder in einem südlichen Land im Schatten eines Baumes – bequem machte. Die nackten Füße des Mannes schienen ebenfalls sehr groß zu sein. Seine Schultern waren breit und massiv wie eine Mauer. Aomame vermutete, dass er ein erfahrener Kampfsportler war.
»Schön, dass Sie gekommen sind.« Der Mann hatte gewartet, bis Aomame ihn taxiert hatte.
»Das ist mein Beruf. Wenn es nötig ist, komme ich überallhin«, sagte Aomame in abweisendem Ton. Dabei kam sie sich auf einmal vor wie eine Prostituierte, die in ein Hotel bestellt worden war. Vielleicht lag es auch daran, dass sie sich zuvor unter seinem durchdringenden Blick im Dunkeln so nackt gefühlt hatte.
»Inwieweit wissen Sie über mich Bescheid?«, fragte der Mann, das Gesicht noch immer in den Händen vergraben.
»Sie meinen, was ich über Sie weiß?«
»Ja.«
»Eigentlich fast nichts«, sagte Aomame vorsichtig. »Ich weiß nicht einmal Ihren Namen. Nur dass Sie in Nagano oder Yamanashi einer Religionsgemeinschaft vorstehen und körperliche Beschwerden haben, denen ich vielleicht Abhilfe schaffen kann.«
Der Mann schüttelte mehrmals kurz den Kopf, nahm die Hände vom Gesicht und wandte sich Aomame zu.
Er hatte langes volles Haar, das ihm glatt bis auf die Schultern hing und von vielen weißen Strähnen durchzogen war. Sein Alter musste zwischen Ende vierzig und Anfang fünfzig liegen. Das Gesicht wurde von einer stark ausgeprägten Nase beherrscht. Eine vernünftige, wunderbar gerade Nase. Sie erinnerte an alpine Berge, wie man sie auf Kalenderfotos sehen konnte, und ragte ebenso würdevoll wie diese von einem breiten Ansatz auf. Wenn man dem Mann ins Gesicht sah, war sie es, die als Erstes ins Auge sprang. Einen Kontrast dazu bildeten die tiefliegenden Augen, deren Blickrichtung schwer zu erkennen war. Insgesamt war das Gesicht groß und massiv wie überhaupt die ganze Statur des Mannes. Er war glatt rasiert, und keine Narbe oder kein Leberfleck verunzierten die Haut. Die regelmäßigen Züge strahlten Gelassenheit und Intelligenz aus. Aber es lag auch etwas Eigentümliches, Ungewöhnliches darin, etwas, das nicht vertrauenerweckend war. Auf den ersten Blick mochte sein Gesicht sogar abschreckend wirken. Vielleicht war die Nase auch zu groß, und dieser Mangel an Ausgewogenheit verunsicherte den Betrachter. Oder es lag an den Augen, von denen ein Licht ausging wie von einem urzeitlichen Gletscher und die Aomame ruhig in ihre Tiefe zogen. Oder es waren die schmalen Lippen, die einen grausamen Zug hatten und aus denen Unvorhersehbares hervorzudrängen drohte.
»Was noch?«, fragte der Mann.
»Sonst eigentlich nichts. Man hat mir lediglich gesagt, ich solle ein Muskelstretching vorbereiten und mich in diesem Hotel einfinden. Muskeln und Sehnen sind mein Spezialgebiet. Ich muss nichts über die Person und die Stellung des Betreffenden wissen.«
Wie eine Prostituierte, dachte Aomame.
»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte der Mann mit tiefer Stimme.
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