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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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»Aber in meinem Fall ist doch eine Art Erklärung angebracht.«
    »Ja, bitte.«
    »Meine Leute nennen mich ›Leader‹. Aber ich zeige mich so gut wie keinem Menschen. Selbst der größte Teil meiner Anhänger hat mich noch nie gesehen, auch wenn wir auf dem gleichen Anwesen leben.«
    Aomame nickte.
    »Aber Ihnen zeige ich mein Gesicht. Schließlich kann ich Sie Ihre Behandlung nicht im Stockdunkeln oder mit verbundenen Augen durchführen lassen. Das ist auch eine Frage der Höflichkeit.«
    »Es ist keine Behandlung«, belehrte Aomame ihn in kühlem Ton. »Nur ein Muskelstretching. Für medizinische Maßnahmen besitze ich keine Lizenz. Meine Technik besteht darin, Muskeln, die im Alltag wenig benutzt werden oder allgemein Probleme bereiten, gewaltsam zu dehnen und das Nachlassen körperlicher Fähigkeiten zu verhindern.«
    Es sah aus, als würde der Mann lächeln. Aber vielleicht bildete sie es sich nur ein, und er hatte seine Gesichtsmuskeln lediglich etwas bewegt.
    »Das ist mir klar. Ich habe den Begriff nur der Einfachheit halber verwendet. Seien Sie unbesorgt. Was ich sagen will, ist, dass Sie hier Dinge sehen werden, die im Allgemeinen niemand zu sehen bekommt. Ich möchte, dass Sie das wissen.«
    »Ihr Mitarbeiter hat mich bereits darauf hingewiesen, dass ich über das, was heute hier stattfindet, nicht sprechen soll«, sagte Aomame und deutete auf die Tür, die ins Nebenzimmer führte. »Aber da gibt es keinen Grund zur Beunruhigung. Nichts von dem, was ich hier sehe und höre, wird nach außen dringen. Bei meiner Arbeit habe ich mit den Körpern vieler Menschen zu tun. Sie mögen zwar eine besondere Position innehaben, für mich sind Sie jedoch nur einer von vielen mit muskulären Beschwerden. Mein Interesse richtet sich ausschließlich auf diesen Bereich.«
    »Ich habe gehört, Sie waren als Kind Mitglied der Zeugen Jehovas.«
    »Nicht aus freien Stücken. Ich wurde dazu erzogen. Das ist ein großer Unterschied.«
    »Das ist allerdings ein großer Unterschied«, sagte der Mann. »Doch von den Bildern, die sich in der Kindheit eingeprägt haben, kann der Mensch sich niemals trennen.«
    »Im guten wie im schlechten Sinn«, sagte Aomame.
    »Die Lehre der Zeugen Jehovas ist eine ganz andere als die der Gemeinschaft, der ich angehöre. Eine Religion, die die Eschatologie in ihren Mittelpunkt stellt, halte ich, mit Verlaub gesagt, mehr oder weniger für Humbug. Ich denke, dass das Weltende in jedem Fall nur eine persönliche Angelegenheit ist. Doch an sich sind die Zeugen Jehovas erstaunlich zäh. Es gibt sie noch nicht lange, aber sie haben schon viel erduldet. Und dennoch hat sich die Zahl ihrer Mitglieder stets vergrößert. Wir können eine Menge von ihnen lernen.«
    »Das liegt doch nur an ihrer Engstirnigkeit. Kleine, sture Leute können sich Kräften von außen sehr hartnäckig widersetzen.«
    »Was Sie sagen, ist sicher richtig«, sagte der Mann und machte eine Pause. »Aber wir sind ja nicht hier, um über Religion zu diskutieren.«
    Aomame schwieg.
    »Sie müssen wissen, dass mein Körper zahlreiche Besonderheiten hat«, sagte der Mann.
    Aomame saß stumm auf ihrem Stuhl und wartete.
    »Wie gesagt vertragen meine Augen kein starkes Licht, ein Leiden, das mich seit einigen Jahren plagt. Bis dahin hatte ich keine Beschwerden, aber irgendwann haben sie sich eben eingestellt. Das ist der Hauptgrund dafür, dass ich kaum noch vor Menschen erscheine. Ich verbringe fast den ganzen Tag in abgedunkelten Räumen.«
    »Ihre Sehkraft ist ein Problem, mit dem ich mich nicht befassen kann«, sagte Aomame. »Mein Gebiet ist wie gesagt die Muskulatur.«
    »Das weiß ich doch. Natürlich habe ich Fachärzte konsultiert. Ich war bei mehreren renommierten Augenspezialisten. Es wurden eine Menge Untersuchungen gemacht, aber bisher ist nichts dabei herausgekommen. Meine Netzhaut ist beschädigt. Was die Ursache ist, weiß man nicht, aber die Krankheit schreitet voran. Wenn es so weitergeht, werde ich wohl in nicht allzu langer Zeit mein Augenlicht verlieren. Selbstverständlich hat das nichts mit meiner Muskulatur zu tun. Ich zähle einfach der Reihe nach von oben nach unten meine körperlichen Beschwerden auf. Ob Sie etwas dagegen tun können oder nicht, können wir später überlegen.«
    Aomame nickte.
    »Dann verkrampfen meine Muskeln sehr häufig«, sagte der Mann. »Und zwar so, dass ich mich plötzlich nicht mehr bewegen kann. Sie werden buchstäblich zu Stein. In diesem mehrere Stunden andauernden Zustand kann ich

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