1Q84: Buch 1&2
sie diesen Mann jetzt töten. Ihn ins Jenseits befördern . Doch zugleich drängte es sie, das merkwürdige Geheimnis seines Körpers zu lüften.
»Ich kenne mich ja nicht aus, aber was ist eigentlich konkret Ihr Problem? Ein- oder zweimal im Monat werden also sämtliche Muskeln Ihres Körpers von einer Lähmung befallen. Dann kommen Ihre drei jungen Freundinnen und haben Geschlechtsverkehr mit Ihnen. Rational betrachtet ist das sicher nicht gerade normal . Aber …«
»Sie sind nicht meine Freundinnen«, warf der Mann ein. »Sie haben die Aufgabe von Priesterinnen. Mit mir zu verkehren gehört zu ihren Pflichten.«
»Pflichten?«
»Es ist ihre vorgeschriebene Aufgabe, an der Zeugung meines Nachfolgers zu arbeiten.«
»Jemand hat das vorgeschrieben?«, fragte Aomame.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte der Mann. »Das Problem besteht darin, dass mein Körper dadurch systematisch zerstört wird.«
»Sind die Frauen schwanger geworden?«
»Keine von ihnen. Das ist auch unmöglich, denn sie menstruieren nicht. Dennoch hoffen sie weiter auf ein Wunder durch die Gnade.«
»Keine ist bisher schwanger. Sie haben keine Periode«, sagte Aomame. »Und Ihr Körper wird immer mehr in Mitleidenschaft gezogen.«
»Die Dauer der Lähmung steigert sich allmählich, ebenso die Häufigkeit, mit der sie auftritt. Das erste Mal hatte ich sie vor sieben Jahren, und anfangs passierte es auch nur einmal alle zwei oder drei Monate. Inzwischen überfällt sie mich bis zu zweimal im Monat. Danach habe ich jedes Mal etwa eine Woche lang starke Schmerzen und bin völlig erschöpft. Als würden mir überall dicke Nägel in den Leib geschlagen. Mein Kopf dröhnt, und ich kann nicht schlafen. Kein Medikament vermag meine Qualen zu lindern.«
Der Mann seufzte.
»In der zweiten Woche lassen die Schmerzen geringfügig nach. Doch statt zu verschwinden, branden sie den ganzen Tag weiter in heftigen Wellen über mich hinweg. Noch immer kann ich kaum atmen. Meine Organe funktionieren nicht richtig. Sämtliche Gelenke knarren und krachen, wie bei einer Maschine, der Schmieröl fehlt. Ich habe das lebhafte Gefühl, dass etwas mein Fleisch verzehrt und mir das Blut aussaugt. Doch das, was mich von innen auffrisst, ist weder Krebs noch ein Parasit. Es wurden alle möglichen Untersuchungen gemacht, aber man hat absolut nichts gefunden. Körperlich sei ich völlig gesund, sagte man mir. Meine Qualen sind medizinisch nicht erklärbar. Sie müssen wohl der Preis für die mir verliehene ›Gnade‹ sein.«
Dieser Mann scheint wirklich auf einen körperlichen Ruin zuzugehen, dachte Aomame. Obwohl er nicht im Mindesten ausgezehrt wirkte. Sein Körper war sehr robust gebaut, und er schien geübt darin, heftige Schmerzen zu ertragen. Dennoch spürte sie, dass er körperlich verfiel. Der Mann war schwer krank. Welcher Art seine Krankheit war, wusste sie nicht. Aber er würde langsam und qualvoll zugrunde gehen, ohne dass sie einen Finger rührte.
»Mein Verfall ist unaufhaltsam«, sagte der Mann, als hätte er Aomames Gedanken gelesen. »Ich werde aufgezehrt, mein Körper wird ausgehöhlt, und ich werde unter größten Schmerzen sterben. Sie verlassen das Gefährt, das keinen Nutzen mehr für sie hat.«
»Sie?«, sagte Aomame. »Wer ist das?«
»Natürlich die, die meinen Körper auf diese Weise auszehren«, sagte der Mann. »Aber das macht nichts. Was ich mir im Augenblick ersehne, ist wenigstens eine kleine Linderung meiner Schmerzen. Auch wenn Sie mich nicht davon befreien können. Sie sind so schwer zu ertragen. Mitunter wüten sie so erbittert, als kämen sie direkt aus dem Mittelpunkt der Erde. Niemand außer mir kann diese Schmerzen verstehen. Sie haben mich vieler Dinge beraubt; zugleich wurde mir vieles dafür gegeben. Diese schweren Schmerzen sind eine besondere Gnade. Aber das macht sie natürlich nicht schwächer. Und den Verfall kann es auch nicht abwenden.«
Eine Zeit lang herrschte tiefes Schweigen.
Schließlich ergriff Aomame das Wort. »Ich wiederhole mich, aber ich glaube kaum, dass ich technisch etwas gegen Ihre Beschwerden tun kann. Besonders, was den ›Preis der Gnade‹ betrifft.«
Der Leader korrigierte seine Haltung und sah Aomame mit seinen kleinen tiefliegenden Gletscheraugen an. Dann öffnete er seine langen schmalen Lippen.
»Doch, das können Sie. Nur Sie.«
»Es würde mich freuen, wenn es so wäre.«
»Ich weiß es«, sagte der Mann. »Ich weiß mehr, als Sie denken. Wenn es Ihnen recht ist, können Sie jetzt
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