1Q84: Buch 1&2
hat, ist der Gefahrenunterschied nur noch graduell. Auf alle Fälle muss ich jetzt gleich zur Arbeit.«
»Zur Schule.«
»Ja.«
»Ich bleibe hier«, sagte Fukaeri.
»Du bleibst hier«, wiederholte Tengo. »Am besten, du gehst gar nicht raus und reagierst auch nicht, wenn jemand an die Tür kommt. Sollte das Telefon klingeln, hebst du nicht ab.«
Fukaeri nickte stumm.
»Was ist übrigens mit Professor Ebisuno?«
»Gestern gab es eine Durchsuchung bei den Vorreitern.«
»Heißt das, die Polizei hat wegen dir das Vorreiter-Hauptquartier durchsucht?«, fragte Tengo erstaunt.
»Sie lesen keine Zeitung.«
»Ich lese keine Zeitung«, wiederholte Tengo. »Mir ist allmählich die Lust dazu vergangen. Deshalb bin ich nicht auf dem Laufenden. Das muss ja ziemlich unangenehm für die gewesen sein.«
Fukaeri nickte.
Tengo seufzte. »Jetzt sind sie bestimmt noch wütender als vorher. Wie ein Hornissenschwarm, den jemand in seinem Nest aufgestört hat.«
Fukaeri kniff die Augen zusammen und schwieg. Vielleicht stellte sie sich einen wütenden Hornissenschwarm vor.
»Wahrscheinlich«, sagte sie leise.
»Und habt ihr etwas über deine Eltern erfahren?«
Fukaeri schüttelte den Kopf. Nein, noch nichts.
»Jedenfalls sind die Sektenleute jetzt sauer«, sagte Tengo. »Und wenn herauskommt, dass dein Verschwinden eine Finte ist, ist die Polizei bestimmt auch sauer.«
»Eben deshalb müssen wir unsere Kräfte zusammentun«, sagte Fukaeri.
»Hast du gerade eben deshalb gesagt?«
Fukaeri nickte. »Habe ich das falsch benutzt«, fragte sie.
Tengo schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht, es klang nur irgendwie neu.«
»Wenn ich störe, kann ich auch woanders hingehen«, sagte Fukaeri.
»Nein, du kannst hierbleiben«, sagte Tengo resigniert. »Wo sollst du denn auch hingehen?«
Ein kurzes Nicken.
Tengo nahm kalten Gerstentee aus dem Kühlschrank und trank. »Ich bin kein Freund von wütenden Hornissen, aber ich werde auf dich aufpassen, so gut es geht.«
Fukaeri musterte Tengos Gesicht eingehend. »Sie sehen irgendwie anders aus als vorher«, sagte sie dann.
»In welcher Hinsicht?«
Fukaeri verzog kurz den Mund. Das hieß, sie konnte es nicht auf den Punkt bringen.
»Du brauchst es nicht zu erklären«, sagte Tengo. Was man ohne Erklärung nicht versteht, versteht man auch nicht mit.
»Wenn ich anrufe, lasse ich es dreimal klingeln, lege auf und rufe noch einmal an. Erst dann nimmst du ab. Verstanden?«
»Verstanden«, sagte Fukaeri. »Sie lassen es dreimal klingeln und legen auf. Dann rufen Sie noch mal an, und ich hebe ab.« Es hörte sich an, als würde sie eine uralte Felsinschrift übersetzen.
»Es ist wichtig, also vergiss es nicht«, sagte Tengo.
Fukaeri nickte zweimal.
Nach seinen beiden Unterrichtsstunden machte Tengo sich im Lehrerzimmer gerade bereit, nach Hause zu gehen, als die Rezeptionistin hereinkam und ihm mitteilte, ein Herr namens Ushikawa wünsche ihn zu sprechen. Sie sprach in entschuldigendem Ton – eine gutherzige Botin, die eine unwillkommene Nachricht überbringen musste. Tengo dankte ihr mit einem strahlenden Lächeln. Schließlich konnte sie wirklich nichts dafür.
Ushikawa saß in der Cafeteria neben dem Foyer und wartete auf Tengo. Er trank Café au lait, nicht gerade ein Getränk, das man mit ihm assoziiert hätte. Unter den quicklebendigen jungen Studenten fiel Ushikawas bizarre äußere Erscheinung noch mehr auf. In dem Teil des Raumes, in dem er sich aufhielt, schienen Schwerkraft, atmosphärische Dichte und Lichtbrechung verändert zu sein. Schon von weitem wirkte er wie der Inbegriff schlechter Nachrichten. Es war gerade Pause und die Cafeteria gut gefüllt; dennoch saß Ushikawa allein an einem Tisch, der eigentlich Platz für sechs Personen bot. Die jungen Leute schienen ihn instinktiv zu scheuen wie Rehe den Wolf.
Tengo holte sich an der Theke einen Kaffee und setzte sich Ushikawa gegenüber, der offenbar gerade ein Eclair verzehrt hatte. Auf dem Tisch lag eine zusammengeknüllte Papierserviette, und seine Mundwinkel waren voller Krümel. Auch der Genuss eines Eclairs schien nicht zu ihm zu passen.
Kaum hatte er Tengo erblickt, sprang Ushikawa auf. »Lange nicht gesehen, Herr Kawana«, begrüßte er ihn. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie wieder so plötzlich überfalle, es ist ja beinahe schon Tradition.«
Tengo schnitt ihm das Wort ab. »Sie sind sicher gekommen, um nach meiner Antwort zu fragen, nicht wahr? Sie lautet: Ich lehne Ihr Angebot ab.«
»Ach, das ist ja
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