1Q84: Buch 1&2
beginnen. Mit dem, was Sie immer tun.«
»Ich versuche es«, sagte Aomame mit harter, hohler Stimme. Ich werde tun, was ich immer tue , dachte sie.
KAPITEL 10
Tengo
Ein Angebot wird abgelehnt
Kurz vor sechs verabschiedete sich Tengo von seinem Vater. Bis das Taxi kam, saßen die beiden einander gegenüber am Fenster und sprachen kein Wort. Tengo blieb stumm in seine eigenen Gedanken versunken, während sein Vater mürrisch auf die Landschaft vor dem Fenster starrte. Der Tag ging bereits zur Neige, und in das helle Blau des Himmels mischte sich ein dunklerer Ton.
Tengo hätte ihn gern noch viel mehr gefragt. Aber er würde ja doch keine Antwort bekommen. Da genügte ein Blick auf die fest aufeinandergepressten Lippen seines Vaters. Er schien entschlossen, nichts weiter zu sagen. Deshalb hatte Tengo auch nichts mehr gefragt. Er würde es sowieso nicht verstehen, mit oder ohne Erklärung. Wie sein Vater gesagt hatte.
Als seine Abfahrt näher rückte, wandte Tengo sich noch einmal an seinen Vater. »Du hast mir heute einiges erzählt. Nicht alles habe ich ganz verstanden, aber ich denke, du warst ehrlich zu mir.«
Tengo sah seinem Vater ins Gesicht. Aber dessen Miene blieb unverändert.
»Es gibt noch vieles, das ich dich fragen möchte, aber mir ist auch klar, dass ich dir damit vielleicht wehtun würde. Also werde ich meine Schlüsse aus dem ziehen, was du mir gesagt hast. Ich vermute, dass du gar nicht mein leiblicher Vater bist. Auch wenn ich die genaueren Umstände nicht kenne, kann ich es mir nicht anders vorstellen. Sollte ich mich irren, sag es mir bitte.«
Der Vater gab keine Antwort.
Tengo fuhr fort. »Würde meine Vermutung zutreffen, wäre ich beruhigt. Nicht, weil ich dich nicht mag. Ich habe ja schon gesagt, dass ich dich jetzt nicht mehr hassen muss. Du hast, obwohl wir vielleicht keine Blutsverwandten sind, für mich gesorgt, als wäre ich dein eigener Sohn. Dafür muss ich dir dankbar sein. Leider sind wir als Vater und Sohn nicht gut miteinander ausgekommen, aber das ist ein anderes Problem.«
Der Vater starrte noch immer wortlos auf die Landschaft. Wie ein Wachposten, der das Signalfeuer eines wilden Stammes auf einem fernen Hügel nicht aus den Augen lässt. Tengo ließ seinen Blick kurz über die Gegend schweifen, auf die sein Vater sich konzentrierte. Ein Signalfeuer war allerdings nicht zu sehen. Nur das Kiefernwäldchen, über das sich bereits ein Anflug von Dämmerung senkte.
»Leider kann ich so gut wie nichts für dich tun, außer dir zu wünschen, dass der Prozess, der diese Leere in dir hervorruft, mit so wenig Leiden wie möglich verbunden ist. Du hast schon genug Schweres mitgemacht. Vielleicht hast du meine Mutter auf deine Weise sehr geliebt. Es kommt mir fast so vor. Aber sie ist eben verschwunden. Ich weiß nicht, ob dieser andere Mann mein biologischer Vater ist oder ob es noch einen weiteren Mann gab. Du hast offenbar nicht vor, mich darüber aufzuklären. Jedenfalls hat sie sich von dir getrennt. Und mich als kleines Kind bei dir zurückgelassen. Vielleicht hast du mich bei dir behalten, weil du damit gerechnet hast, dass sie dann irgendwann zu dir zurückkommt. Aber sie ist nie gekommen. Weder zu dir noch zu mir. Das muss hart für dich gewesen sein. Wie in einer leeren Stadt zu leben. Und dort hast du mich aufgezogen. Um die Leere zu füllen.«
Der Ausdruck des Mannes am Fenster veränderte sich nicht. Tengo hatte keine Ahnung, ob er seine Worte verstand oder ob er sie überhaupt hörte.
»Vielleicht sind meine Vermutungen falsch. Das wäre vermutlich sogar besser. Für uns beide. Aber wenn ich mir alles genau überlege, passt so vieles zusammen. Vorläufig sind zumindest einige Fragen für mich gelöst.«
Ein Krähenschwarm überquerte krächzend den Himmel. Tengo sah auf die Uhr. Es war Zeit. Er stand auf und legte seinem Vater die Hand auf die Schulter.
»Auf Wiedersehen, Vater. Ich komme bald wieder.«
Als er sich, den Türknauf schon in der Hand, noch einmal umdrehte, sah Tengo zu seinem Erstaunen, dass aus einem Auge seines Vaters eine Träne rann. Sie glänzte silbrig im Schein der Deckenlampe. Vielleicht hatte sein Vater alle in ihm verbliebenen Emotionen aufgewandt, um diese eine Träne vergießen zu können. Die Träne lief langsam über seine Wange und fiel dann auf sein Knie. Tengo öffnete die Tür und ging hinaus. Er nahm ein Taxi zum Bahnhof und stieg in den Zug.
Der Express von Tateyama nach Tokio war voller als auf der Hinfahrt, und es ging
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